Das Buch des Vergessens
beschämt zu fühlen. Man liest sie anstelle der Hinterbliebenen – denn keiner dieser Briefe hat je sein Ziel erreicht. Sie wurden allesamt abgefangen, auf Informationen überprüft, die wichtig sein könnten für das Revolutionstribunal, und danach ins Gefängnisarchiv gesteckt. Keiner dieser Kinder, Eltern, Eheleute oder Freunde hat sie je zu Gesicht bekommen. (Dieser Tatsache verdanken wir übrigensauch, dass es sie überhaupt noch gibt; die Abschiedsbriefe, die später unter einem milderen Regime die Hinterbliebenen erreichten, sind fast alle verloren gegangen.) Es ist eine ironische Umkehrung: Indem sie den Gedächtnissen vorenthalten wurden, für die sie von ihren Verfassern bestimmt waren, halten die im Archiv gelandeten Briefe nun die Erinnerung an den Terror lebendig.
All diese Verfasser verbindet die Gewissheit, innerhalb von vierundzwanzig Stunden, häufig noch viel schneller, sterben zu müssen. Was sie jetzt in diesen Briefen schreiben, ist das Letzte, was sie ihren Lieben noch sagen können. Es ist ihnen bewusst, dass sie sehr bald nur noch in deren Erinnerung weiterleben werden. Jetzt, da ihr Tod so nahe ist, bekommt gerade diese Erinnerung Bedeutung. In ihrer schwersten Stunde suchen sie Trost in der Aussicht, dass sich jemand an sie erinnert. Bis heute spricht man vom ›zweiten Tod‹: Tot ist man erst, wenn man aus den Erinnerungen der Hinterbliebenen verschwunden ist. In den ersten Tod, auf dem Schafott, mussten sie sich nur fügen, er war unabwendbar; mit dem zweiten Tod wollte sich keiner von ihnen abfinden. Jeder Briefschreiber versuchte, seine eigenen Worte dafür zu finden, aber der Kern lautet: ›Vergiss mich nicht‹, was in all ihrer Schlichtheit auch die am häufigsten vorkommende Formulierung ist.
Meist blieb es nicht bei dieser flehentlichen Bitte. Nahezu alle Briefe enthalten Anweisungen zur richtigen Verwaltung des Gedenkens. Manchmal betraf es den Umgang mit Andenken, häufiger den Umgang mit der Erinnerung selbst. Was konnte man tun, um das Vergessen auf Abstand zu halten? Was sollten Hinterbliebene als Erinnerung hegen und was ganz sicher nicht? Wie sollte mit Erinnerungen von Kindern umgegangen werden, die jetzt noch zu jung waren, um zu erfassen, was mit ihrem Vater oder ihrer Mutter geschehen war? Und vor allem: Wie wollte der Verfasser in der Erinnerung weiterleben? Was für ein Mann oder eine Frau, Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Geliebter oder Geliebte waren sie gewesen? Was wollten sie ihren Lieben noch mitgeben? Was war das Wesentlichste, das man über sich selbst als erinnernswert empfehlen wollte, wenn man nur ein paar Seiten zur Verfügung hatte? Diese Fragen waren plötzlich sehr dringlich geworden.
Aber bevor wir in den Briefen lesen, sollten wir ein paar Schritte zurückgehen. Warum diese Briefe? Es gibt noch mehr solcher Sammlungen. Es gibt sie von Menschen, die aufgrund ihres Widerstands verhaftet worden waren und am nächsten Morgen standrechtlich erschossen werden sollten. Es gibt sie von eingekesselten Soldaten, die wussten, dass der Feind keine Kriegsgefangenen machte. Es gibt sie von Polreisenden, denen klar war, dass der Rückweg abgeschnitten war. Warum also gerade die Briefe aus der Zeit der Schreckensherrschaft?
Einer der Gründe ist eine gewisse Befangenheit. Die Scheu, einen Brief zu lesen, obwohl dieser nicht an einen selbst adressiert ist, steigt in dem Maße, wie er uns zeitlich näher kommt, und wird schier unüberwindlich bei Briefen, die auf dem Weg ins Konzentrationslager im letzten Moment aus dem Fenster geworfen wurden, von Menschen, die Zeitgenossen von Eltern oder Großeltern waren, die in Straßen wohnten, die es noch gibt. Die Intimsphäre wird durch die Distanz von zweihundert Jahren zwar auch verletzt, aber das Wissen, dass einen gut sieben, acht Generationen von den Adressaten trennen, erleichtert es, das Gefühl der Unschicklichkeit zur Seite zu schieben.
Der zweite Grund ist, dass der Inhalt dieser Abschiedsbriefe – ungeachtet des zeitlichen Abstands – eine Erkennbarkeit hat, die uns tatsächlich überraschen müsste. Es fiel mir selbst erst nach zwanzig, dreißig Briefen auf: Es wird wenig gebetet. Das Ende des achtzehnten Jahrhunderts war eine gläubige, religiöse Zeit, und doch spielen nicht mehr als eine Handvoll Verfasser auf eine Wiedervereinigung im Jenseits an. Der Trost, den die meisten suchen, ist säkular und näher: Was von ihrem Leben bleibt, ist das, was ihre Lieben von ihnen in ihrer Erinnerung
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