Das Buch des Vergessens
bewahren. Sie erhoffen und ersehnen sich, was bis heute in Todesanzeigen, Beileidsbriefen und Grabreden so häufig Leitmotiv ist: das Versprechen, den Verstorbenen in guten Erinnerungen weiterleben zu lassen. Das gibt den Briefen eine Nähe, die den Abstand so vieler Generationen aufhebt. Sie sind von früher und gegenwärtig zugleich.
Der Trost eines Porträts
Viele dieser Briefe bewegen sich auf der Zeitachse in beide Richtungen. Die Verurteilten blicken auf ein Leben zurück, das nun kurz vor seinem Abschluss steht, und allmählich richten sie ihre Gedanken darauf, wie die Zurückbleibenden die Erinnerung an dieses Leben in ihr Herz schließen werden. Wie intensiv die Sehnsucht war, in Erinnerung zu bleiben, zeigt sich an der Mühe, die sich viele gaben, ihren Lieben noch etwas zuzuspielen, das die Erinnerung unterstützt. Wenn die Umstände es zuließen, schickten sie Andenken mit, einen Ring, ein Porträt, ein Medaillon. Einigen Verurteilten gelang es sogar, noch schnell ihr Porträt von einem Miniaturmaler zeichnen zu lassen, das sie dem Brief beifügten.
Aus Sorge, die Schreckensherrschaft könne auf einen Bürgerkrieg hinauslaufen, kam Charlotte Corday am 9. Juli 1793 mit einer Eilkutsche von Caen nach Paris. Dort zog sie in ein Hotel. Sie kaufte ein langes Küchenmesser in der Nähe ihrer Unterkunft. In ihrem Zimmer schrieb sie eine Erklärung an das französische Volk. Ihrer Ansicht nach war Jean-Paul Marat, ein Journalist und Agitator und zu diesem Zeitpunkt der Anführer der Jakobiner, die Schlüsselfigur der Schreckensherrschaft. Am Morgen des 13. Juli klopfte sie an der Wohnungstür von Marat. Sie sagte, sie sei im Besitz einer Liste mit den Namen der Girondisten, die einen Aufstand planten. Man schickte sie weg. Am Abend versuchte sie es erneut, diesmal ließ man sie zu Marat, der wegen einer Hautkrankheit viele Geschäfte vom Bad aus regelte. Während er die Namen der Verschwörer abschrieb, zückte sie das Messer und erstach ihn.
Charlotte Corday, nachdem sie in ihrer Zelle für das Porträt Modell gestanden hat, das sie als ›greifbare Erinnerung‹ für ihre Lieben hinterlassen wollte.
Corday wusste, dass sie diesen Anschlag mit dem Leben bezahlen würde. Sie machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Im Gefängnis bat sie darum, einen Miniaturmaler kommen zu lassen, und begleitete diese Bitte mit Argumenten, die sich darum drehten, ihr Andenken am Leben zu halten, sogar wenn dieses Andenken ein Verbrechen betraf: »Da mir noch einige Augenblicke zu leben übrig bleiben, möchte ich Euch, Bürger, um die Erlaubnis bitten, mein Porträt malen zu lassen, das ich meinen Freunden als Andenken hinterlassen will. So wie man an dem Abbild guter Bürger hängt, interessiertman sich übrigens aus Neugier manchmal auch für das von großen Verbrechern, denn es verewigt den Schauder, den ihre Verbrechen einflößen.«
Anmerkung
Während des Prozesses erwähnte sie, das Porträt, das der Gerichtsmaler von ihr angefertigt hatte, sei »gekonnt gezeichnet und gut getroffen«, und lud ihn in ihre Zelle ein, um es fertigzustellen. Laut eines Zeitungsberichts soll sie ihm »mit einer kaum vorstellbaren Ruhe und Fröhlichkeit« Modell gestanden haben.
Anmerkung
Am 17. Juli 1793 wurde sie enthauptet, vier Tage nach dem Mord an Marat, zehn Tage vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag.
Es ist bezeichnend, dass eine Person, die ein politisches Manifest hinterließ, ihre Motive während des Prozesses dargelegt und einen Abschiedsbrief geschrieben hatte, sich auch noch so viel Mühe machte, ihr Porträt zu hinterlassen. Das Porträt sollte eine ›greifbare Erinnerung‹ sein, ein Mittel, um die Erinnerung ›lebendig‹ zu halten. In ihrem Brief verabschiedete sie sich von ihrem Vater und ihrer Schwester, aber es war offensichtlich das Porträt, von dem sie erwartete, dass es die Erinnerung an sie am besten stützte.
Die Hoffnung, zumindest ein Porträt hinterlassen zu können, spricht auch aus den detaillierten Anweisungen in einem – nicht unterschriebenen – Brief an Fouquier-Tinville: »Ich bitte Sie, Bürger Öffentlicher Ankläger, mein Porträt meinem zehnjährigen Sohn, der in der Rue de Berry in Pension ist, übergeben zu lassen. Sie werden es in einer Mappe meiner Schreibgarnitur aus rotem Saffianleder, das Ihnen mit Sicherheit ausgehändigt werden wird, vorfinden. Diesem Kind, dem Sie seine Mutter entreißen, soll wenigstens einBild von ihr bleiben.«
Anmerkung
Einer der Gefangenen – der letzten Endes
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