Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
Erinnerungen jetzt gerade am schwierigsten zu verarbeiten waren.«
Anmerkung
    Sein Beitrag zu Het boek van de schoonheid en de troost schließt mit einem bedrückenden Satz: »Und selten bieten Erinnerungen Trost, weil sie das aufrufen, was nie mehr so sein würde, wie es einmal war.«
Anmerkung
Die Erinnerungen, einst mit Sorgfalt und Liebe gehegt, verursachen jetzt Schmerz. Toonder muss sich durch sein eigenes Gedächtnis betrogen gefühlt haben.
    Allein zu bleiben mit den Erinnerungen führt zu dem Paradox, dass es Augenblicke gibt, in denen man am liebsten gerade die schönsten Erinnerungen in ein Vergessensbüchlein schreiben würde.

Der zweite Tod
    Zwischen Sommer 1793 und Sommer 1794 war Paris zu einem einzigen Gefängnis geworden. Das neue revolutionäre Regime, das im September 1792 die Republik ausgerufen hatte, beschlagnahmte Klöster, Kirchen und Kasernen in der ganzen Stadt. Die Gefangenen, die hier untergebracht wurden, waren wegen des Verdachts auf kontrarevolutionäre Aktivitäten verhaftet worden. Diese Zeit in der französischen Geschichte ist als La Grande Terreur, die große Schreckensherrschaft, bekannt.
Anmerkung
Etwa siebentausend Menschen mussten vor dem Revolutionstribunal erscheinen, das speziell für Delikte gegen die Revolution einberufen worden war; während des Höhepunkts der Terrorherrschaft im Juni und Juli 1794 wurden 1370 Männer und Frauen zum Tode verurteilt. Sie starben durch die Guillotine, die man auf dem Place de la Révolution errichtet hatte.
    Welche Verbrechen legte man ihnen zur Last? Die Anklagen waren ganz unterschiedlicher Art. Bei manchen ging es um Verrat, Verdunkelung oder Korruption, andere sollten verdächtige Beziehungen unterhalten oder etwas geschrieben haben, das man konterrevolutionär auslegen konnte. Bei einer Hausdurchsuchung konnte ein Brief aus dem Ausland gefunden worden sein, der nicht angegeben worden war. Manchmal lag noch weniger vor, und als Anlass für die Verhaftung stellte sich heraus, dass jemand ›verdächtigt wurde, verdächtig zu sein‹.
Anmerkung
Vor allem bei wirtschaftlichen Delikten – auch des bloßen Verdachts derselben – trat man streng auf. Das revolutionäre Regime hatte in aller Eile etliche Dekrete erlassen, die verhindern sollten, dass dem französischen Staat Geld oder Güter entzogen wurden. So bestimmte ein ›Emigrantengesetz‹, das vom einen auf den nächsten Tag in Kraft trat, dass Besitz von Angehörigen der früheren Aristokratie, die ins Ausland geflüchtet waren, für beschlagnahmt erklärt wurde und der Republik zufiel. VieleHerzöge, Grafen und Markgrafen reisten Hals über Kopf aus der Schweiz oder den Niederlanden zurück in die Heimat, um ihren Aufenthalt in Frankreich offiziell registrieren zu lassen. Das gelang nur noch mit gefälschten Aufenthaltsgenehmigungen und lief häufig darauf hinaus, dass man sie verhaftete und ihr Kapital nachträglich konfiszierte. Die vierzig Übergangsgefängnisse in Paris füllten sich mit Adligen, aber auch mit ehemaligen Richtern, Offizieren vom königlichen Hof oder Priestern, die sich geweigert hatten, den konstitutionellen Eid abzulegen. Die Gesetzgebung war ausgesprochen willkürlich, die Handhabung brutal und repressiv.
    Der öffentliche Ankläger des Revolutionstribunals hieß Fouquier-Tinville. Er war zum ominösen Jahresgehalt von 666 Pfund angestellt worden. Es gelang ihm, so gut wie jeden Vorgeführten zu verurteilen. Einmal in Händen dieses Anklägers und seines mächtigen Justizapparats, machten sich die meisten Verhafteten keinerlei Illusionen mehr. Eine Verurteilung bedeutete den sicheren Tod, in Berufung gehen war nicht möglich. Das Gesetz gestattete lediglich eine einzige Form des Aufschubs: War eine Verurteilte schwanger, wurde die Exekution auf 24 Stunden nach der Geburt verschoben, was bedeutete, dass die ersten Wehen zugleich auch den baldigen Tod einläuteten.
    Man gestattete den Verurteilten, Abschiedsbriefe zu schreiben. Einige Hundert davon wurden veröffentlicht.
Anmerkung
Sogar noch zweihundert Jahre später liest man sie mit Rührung, aber auch mit einer gewissen Scheu. Sie sind nicht an einen selbst gerichtet. Sie sind für die Liebsten bestimmt, für Kinder, Eltern, Mann oder Frau, Geschwister, Freunde, oder wen der zum Tod Verurteilte sonst für seinen letzten Bericht auserwählt hatte. Man verstößt gegen den stillschweigenden Pakt der Intimität zwischen dem Briefschreiber und seinem Leser. Aber es gibt noch einen zweiten Grund, sich

Weitere Kostenlose Bücher