Das Buch des Vergessens
verbindet, ein kleiner Schnitt gemacht, der die Signalübertragung von der einen zur anderen Seite verhindert. Diese Menschen behalten die Fähigkeit, zu träumen und davon zu erzählen. Das bedeutet also, dass links von dem erzählt, was links geträumt hat, man könnte fast sagen: was links ›selbst‹ geträumt hat. Diese Träume enthalten auch Bilder, sind allerdings im Verhältnis zu den früheren eher farblos und langweilig.
Diese und andere Studien haben das Bild des Traums als ein Produkt der rechten Hemisphäre nuanciert. Heute ist man der Ansicht, dass Träume die integrierte Aktivität beider Hirnhälften erfordern, dass verbale Fragmente Bilder hervorrufen können und umgekehrt und dass Schädigungen der linken Gehirnhälfte auch die Qualität der Bilder angreifen. Kurzum, das Muster des Traums entsteht auf einem Webstuhl, dessen Schussspule sich unsichtbar schnell hin- und herbewegt. Damit verschwindet auch die Glaubwürdigkeit der Theorie, dass wir Träume vergessen, weil links nichts mit dem anfangen kann, was von rechts kommt.
Dummes Zeug
Die Auffassung, der Traum setze sich aus zufälligen Fetzen ohne Bedeutung zusammen und dafür gebe es neurologische Ursachen, hat eine lange Geschichte. Im siebzehnten Jahrhundert sah Descartes das Nervensystem als ein fein verästeltes Netzwerk ausgesprochen dünner Röhrchen. Diese Röhrchen seien mit einem gasförmigen Stoff gefüllt, dem spiritus animales, sodass das Ganze wie ein hydraulisches System funktioniere. Nach Descartes entstehen Träume, weil in einem schlafenden Gehirn auch schwache und willkürlicheBewegungen des spiritus animales die Seele erreichen können, ungefähr so, wie ein Windstoß ein Schiffssegel flattern lassen kann, wenn die Schoten lose hängen. Träume sind in der Regel daher auch bedeutungslos, verworren, fragmentarisch.
Diese Theorie über die Entstehung von Träumen hat noch immer Anhänger, auch wenn Windstöße und lose Schoten mittlerweile einen anderen neurophysiologischen Begriff erhalten haben. Allan Hobson und Robert McCarley, damals Harvard-Mitarbeiter, nahmen 1977 an, für das Auftreten des REM – Schlafs und auch für die daraus entstehenden Träume seien periodische und zufällige Entladungen von Zellen im Hirnstamm verantwortlich.
Anmerkung
Die Reize aus dem Hirnstamm mobilisierten das Stirnhirn, das sich anstrenge, aus all diesen Zufälligkeiten eine Geschichte zu stricken. Der bizarre Charakter des Traums werde dadurch verursacht, dass es sich beim Hirnstamm um einen relativ primitiven Teil unseres Gehirns handele und in den Entladungen kein Muster stecke. Daher die plötzliche Verlagerung der Szene, Menschen, die aus dem Nichts auftauchen, seltsame Assoziationen. Für Hobson war diese Hypothese von Aktivierung und Synthese Teil einer umfänglicheren Theorie über Halluzinationen, epileptische Anfälle, Desintegration von Denken und Erleben bei schizophrenen Patienten – alles Beispiele zufälliger Aktivierung in primitiven Gehirnteilen, worin andere Hirnstrukturen dann wiederum ihre Bedeutung entdecken müssten.
Eine verwandte Theorie ist die von David Foulkes, der den Gedanken äußert, Träume entstünden durch spontanes Abfeuern von Zellen, die Teil von Gedächtnisspuren seien.
Anmerkung
Diese Entladungen seien vollkommen willkürlich, daher, wiederum, der fehlende Zusammenhang in Träumen: »Der Grund, weshalb Träumende nicht verstehen, was ihre Träume bedeuten, und warum wir so große Mühe damit haben, eine adäquate Erklärung zu geben, was sie bedeuten könnten, ist, dass sie gar nichts bedeuten.«
Anmerkung
Allerdings gibt es auch ›luzide Träume‹ (Klarträume), Träume, in denen es dem Träumenden bewusst ist, dass er träumt. Dennoch träumt er weiter und hat manchmal sogar das Gefühl, seinem Traum eine bestimmte Richtung geben zu können. Aber diese sind eine Ausnahme. Die meisten Träume schließen den Träumenden passivin seiner Geschichte ein. Dass der Traum während des Träumens nicht als Traum, sondern als ›echt‹ erfahren wird, liegt nach Foulkes daran, dass der Traum größtenteils durch dieselbe neuronale Maschinerie produziert werde, die tagsüber unsere Sinneseindrücke und Erlebnisse verarbeitet. Der Träumende hat wirklich keine Ahnung: Er glaubt, alles Mögliche zu erleben, zu sehen, zu hören, während sein Gehirn unterdessen hart arbeitet, um etwas Begreifliches aus dem zu fabrizieren, was dieses Hirn selbst hervorbringt: Erinnerungen, Fantasien, Erwartungen, Ängste.
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