Das Buch des Vergessens
Träumen mit denen des Mannes übereinstimmen.
La Scève ist von den Experimenten abhängig, die ihm die Natur und die Gunst des Schicksals verschaffen, aber er weiß dann auch immer seinen Vorteil daraus zu ziehen. So wird er eines Tages zu Hilfe gerufen bei einem Nachbarn, der von seinem Pferd getreten worden ist. Das Hufeisen hat ihn an der linken Seite des Schädels getroffen. Knochensplitter sind ins Gehirn gedrungen, der Mann ist nicht mehr bei Bewusstsein. Nachdem La Scève die Knochenreste entfernt hat, bleibt ein etwa dukatengroßes Loch zurück. Es gestattet den Blick auf geschwollenes rotes Gewebe, in dem die Adern der Hirnrinde pulsieren. Die Wunde wird mit einem dünnen Verband abgedeckt. Die Tochter des Patienten berichtet, dass sie nachts, während sie an seinem Bett wachte, einige Male beobachtet habe, wie sich das Gehirn durch das Loch nach außen zu schieben schien und den Verband hochdrückte. Das möchte La Scève genauer erkunden. Er setzt sich ans Bett und sieht nach einer Stunde die Phänomene, die er bereits von dem Kavalleristen kannte: eine jagende Atmung und schnelle Augenbewegungen. Verstohlen lupft er das Laken: auch die Erektion ist vorhanden. Als er sich über das Schädelloch beugt, sieht er, wie sich die Haargefäße auf der Hirnoberfläche füllen und immer röter werden. Nach einer Viertelstunde vermindert sich die Stauung, und das Gehirn wird wieder rosa.
Die Beobachtungen über periodisch auftretende Gehirnaktivität, nächtliche Erektionen und Augenbewegungen gingen, historisch gesehen, der Entstehung der Schlaflabore in den Fünfzigerjahren voraus, nicht nur in diesem Roman. Die Augenbewegungen hatte bereits Aristoteles wahrgenommen. Das Anschwellen der Gefäße im Gehirn hatte 1831 schon der französische Arzt Pierquin bei einer Patientin festgestellt, der durch eine Krankheit ein Teil des Schädeldachs fehlte. Der Turiner Physiologe Mosso reklamierte 1877 die erste Registrierung des Schwellens für sich. Bei einem elfjährigen Jungen hielt er mit einem Druckmesser das Pulsieren des Gehirns fest. Die größeren Wellen in der Grafik, dachte Mosso, könnten »durch die Träume entstehen, die dieses unglückliche Kind imSchlaf aufmunterten, wie etwa das Bild seiner Mutter oder Erinnerungen an seine ersten Kinderjahre, die nun wieder aufstiegen, Licht ins Dunkel seines Verstandes brächten und Schwingungen durch sein Gehirn schickten«.
Anmerkung
Auch die nächtlichen Erektionen hatten – ein wenig verbrämt – schon ihren Weg in die Wissenschaftsliteratur gefunden. Aber die Integration all dieser periodisch auftretenden Phänomene und die Möglichkeit, sie verlässlich zu messen, machte die Entstehung von Schlaflabors erforderlich.
1953 entdeckten Kleitman und Aserinsky das Phänomen des REM – Schlafs: Während bestimmter Schlafphasen bewegen sich unsere Augen recht schnell.
Anmerkung
Die erste Phase des REM – Schlafs tritt nach etwa anderthalb Stunden auf und dauert knapp zehn Minuten. Phase zwei und drei folgen etwas schneller, dauern jedoch länger. Die vierte Phase erstreckt sich über fast eine halbe Stunde und hat Erwachen zur Folge. Träumen scheint hauptsächlich während des REM – Schlafs stattzufinden: Wer in dieser Phase geweckt wird, berichtet von Träumen, wer aus dem Tiefschlaf geweckt wird, kann viel seltener davon erzählen, geträumt zu haben. Während des REM – Schlafs ist die Motorik blockiert, was die Empfindung von Schweben oder Fliegen in Träumen erklären könnte, aber auch des Sich-nicht-mehr-bewegen-Könnens, obwohl man sich in Lebensgefahr befindet.
Die Entdeckung des REM – Schlafs war ein gewaltiger Impuls für die Traumforschung. Die Messung von Augenbewegungen gestattete vielleicht keinen Zugang zum Traum, aber immerhin zum Träumen. Jetzt war es möglich, Traumverhalten unter kontrollierten Bedingungen in Laboratorien zu untersuchen, zu schauen, welche physiologischen Veränderungen während des Träumens auftreten, beim Herzschlag, Blutdruck, bei der Gehirnaktivität, und mit Schlafentzug zu experimentieren. Wenn der REM – Schlaf und das Träumen, das in dieser Phase stattfindet, eine Funktion haben, sollte man auch erwarten, dass lang andauernder Entzug körperliche oder psychologische Konsequenzen hat.
Ein halbes Jahrhundert später kann man feststellen, dass sehr viele Studien über den REM – Schlaf in unzähligen Schlaflaborenin der ganzen Welt eine ganze Reihe interessanter Befunde über Träume ergeben haben. Einer davon
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