Das Buch des Vergessens
ist, dass die längsten, lebendigsten und bizarrsten Träume sich während der vierten und letzten Periode des REM – Schlafs abspielen. Ein weiteres Ergebnis ist, dass bereits während der ersten Minuten nach dem Traum vieles vergessen wird: Wenn Wissenschaftler nach den physiologischen Signalen, dass geträumt wird, noch ein paar Minuten mit dem Wecken warten, ist die Chance, dass sich eine Versuchsperson an den Traum erinnert, schon ein Stück kleiner. Etwa 80 Prozent des REM – Schlafs gehen mit einer Erektion und einer stärkeren Durchblutung der Scheide einher, jedoch nicht infolge erotischer Träume, wie bei dem Schweizer Kavalleristen bereits festgestellt: Erektionen treten auch bei neutralen Träumen sowie bei Albträumen auf. Höchstens einer von zehn Träumen hat einen erotischen Inhalt. Die bizarren Augenbewegungen haben ebenso wenig etwas mit dem Inhalt des Traums zu tun. Eine Zeit lang dachte man, sie entstünden, weil wir versuchten, den geträumten Szenen mit den Augen zu folgen. Diese ›Scanning-Hypothese‹ ist widerlegt: Die Augenbewegungen wurden auch bei blind geborenen Erwachsenen beobachtet, die keine visuellen Träume haben, und kommen schon bei Neugeborenen vor, die überhaupt noch nicht gelernt haben, auch nur irgendetwas mit dem Blick zu verfolgen.
Aber die Studien in Schlaflabors haben auch ihre eigene Relativierung erzeugt. So fallen Träume zunächst einmal nicht strikt mit dem REM – Schlaf zusammen: Es wird ebenso außerhalb des REM – Schlafs geträumt, nur nicht so viel. Manche Menschen, die aufgrund eines neurologischen Defekts keinen REM – Schlaf haben, träumen dennoch. Das Umgekehrte kommt auch vor: Menschen, die nach einer Gehirnschädigung nicht mehr träumen, obwohl der REM – Schlaf nicht angegriffen ist. Wer nach den üblichen REM – Maßen nie träumt, scheint auch auf Dauer gesehen dadurch keinen Nachteil zu erleiden. Manche Antidepressiva unterdrücken den REM – Schlaf, dennoch entstehen bei diesen Menschen keine Gedächtnisprobleme. L- DOPA schließlich, ein Stoff, der Parkinsonpatienten zum Ausgleich der verminderten Aktivität des Neurotransmitters Dopamin verschrieben wird, erhöht die Häufigkeit von Träumen(und leider auch die von Albträumen), während der REM – Schlaf nicht zunimmt. Träume und REM – Schlaf, so steht jetzt fest, stehen nicht im Verhältnis 1 : 1.
Während der letzten zehn, fünfzehn Jahre wurden Träume mit bildgebenden Techniken untersucht, zum Beispiel mit PET – Scans. Genau wie in der Anfangsphase der Erforschung des REM – Schlafs sind die Erwartungen hoch. In einem dieser Experimente fand man heraus, dass während des Träumens heftige Aktivität in den tiefer gelegenen Teilen des Gehirns stattfindet, aber keine Aktivität in den Teilen des Gehirns, die etwas mit dem Gedächtnis zu tun haben. Das wäre eine sehr schlichte und triftige Erklärung für die Frage, warum wir Träume vergessen: Der Traum kann nicht festgehalten werden, denn die Teile des Gehirns, die dafür sorgen müssten, sind vorübergehend außer Betrieb. Aber tatsächlich ist ein solches Ergebnis der Anfang einer ganzen Serie von Problemen. Denn wie kann es dann sein, dass wir manche Träume doch behalten? Ganz davon abgesehen, dass wir sich wiederholende Träume haben könnten. Und wie verhält sich diese Beobachtung wiederum zur Theorie von Francis Crick, der behauptete, das Gedächtnis sei gerade während des Träumens eifrig mit Sortieren beschäftigt? Oder zur Theorie von Winson, der uns erklärte, das Gedächtnis sei während des Träumens damit beschäftigt, Spuren zu festigen? Die Einführung neuer Techniken führt bei komplizierten psychophysiologischen Problemen wie dem des Traums meist zwar zu neuen Hypothesen, aber nicht zu ausreichender Widerlegung oder Bestätigung alter Hypothesen. Die Forschung mit neurophysiologischen Parametern mag die Assoziation wecken, sie sei »objektiv«, doch die Antworten auf die Frage, warum wir Träume vergessen, bleiben noch vage und doppeldeutig.
Linke Hemisphäre, rechte Hemisphäre
Wenn etwas die Geschichte der Traumforschung in den letzten anderthalb Jahrhunderten charakterisiert, von der Zeit vor Freud bis zu den jüngsten Untersuchungen in Schlaflabors, dann wohl dieAufteilung des Träumens in zwei Prozesse. Solche Zweiteilungen werden selbstverständlich unterschiedlich benannt, aber sie laufen immer wieder darauf hinaus, es müsse ein System geben, das den Traum erzeuge, und eins, das ihn
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