Das Buch des Wandels
in den achtziger Jahren die Grüne Partei auftauchte, bestand deren Programm zunächst aus einem Bündel von Themen und Forderungen, die quer zum Rechts-links-Raster standen: Konservative Elemente des Naturschutzes mischten sich mit unternehmerischen Strömungen, gespeist aus dem Entrepreneurmilieu, dem viele Grüne angehörten; kultureller Progressismus kombinierte sich mit Technikangst. Die neue Partei stammte aus einer Tradition der ländlichen Autonomiebewegungen (Frieden, Frauen und Regionen), aber viele Mitglieder argumentierten generell staatsaffin, schon deshalb, weil die Parteibasis zu 50 Prozent aus Lehrern bestand. In den Städten dominierte eine eher staatsfeindliche (aber durchaus transferfreundliche) Anarchofraktion, auf dem Land das liberale Bürgertum.
Diese Mischung war spannend und erfrischend, gerade weil sie quer zu den Mustern des Rechts-Links stand. Es dauerte trotzdem kein Jahrzehnt, bis die Grüne Partei in der Perlenkette verortet war – etwas rechts von der SPD, ein wenig links von der Mitte. Und damit wurde auch das Grüne Projekt im Grunde langweilig.
Wir alle wünschen »Sicherheit«, »Freiheit«, »Fortschritt«, »Heile Natur«, »Soziale Sicherheit«. Wer wollte dem widersprechen? Da alle Parteien dies wollen, muss sich die Differenzierung auf Gefühle und Stimmungen rück-beziehen. Das politische System der Parteien und »Lager« ist längst unterkomplex im Verhältnis zur politischen und sozialen Wirklichkeit. Können wir aus dem Korsett des Lagerdenkens herauswachsen?
Jenseits des Dritten Weges
Tony Blair, der junge sozialdemokratische Führer, versuchte in England in den späten neunziger Jahren eine Politik, die die Mauern zwischen Links und Rechts bewusst durchbrechen wollte. Inspiriert von einem Thinktank-Pool visionärer Intellektueller, wollte Blair den europäischen »Sozialmasochismus« (eine Wortprägung des französischen Ökonomen Anthony de Jasay) überwinden. 11 Ausgangspunkt war eine schonungslose Bilanz des Sozialstaates. Dessen Mechanismen, so zeigte sich, funktionierten teilweise wie ein Anreiz zur Unmündigkeit. Als zum Beispiel in den USA höhere Sozialleistungen für junge Mütter beschlossen wurden, stieg innerhalb von neun Monaten auf geisterhafte Weise die Anzahl der Frühschwangerschaften, ein ganz und gar unerwünschter Effekt. Eine bestimmte Schicht von Transferempfängern, Bildungsfernen, zum Teil auch Arbeitsunwilligen wurde durch Wohlfahrtszahlungen nicht integriert, sondern dauerhaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen .
Die Suche des Dritten Weges galt einer Erweiterung und Verbesserung der sozialen Aufgabe des Staates (nicht, wie seine Gegner argwöhnten, dem Abbau sozialer Leistungen). Statt finanzieller Umverteilung suchte man nach besseren Hebelwirkungen der Transfers, nach besserer Ankerung und richtigem Framing . Im Hintergrund stand die These der »Inklusionspolitik«: Nicht mehr der Mangel an Geld oder Gütern, sondern Defizite in
Bezug auf Bildung, Sozialkompetenzen, letztlich Kulturfragen, standen im Mittelpunkt der neuen sozialen Frage. Blairs Team entwickelte einen »Neuen Sozialvertrag«. Dessen Absicht war, Rechte und Pflichten zwischen Staat und Individuum neu auszutarieren. Wer soziale Leistungen erhält, hat die Pflicht, sich zu bewegen. Wer sich bewegt, hat das Recht auf vielerlei Hilfen und Unterstützungen.
Die »Fördern und Fordern«-Politik in Deutschland griff diese Logik später auf. Und scheiterte an handwerklichen Fehlern, verpfuschter Kommunikation und medialem Populismus. Aber vieles geriet auch in Bewegung. Sozial- und Arbeitsämter erinnern heute in vielen europäischen Ländern immer weniger an die grauen Verwaltungsbehörden zur Ruhigstellung des sozialen Bodensatzes. Worte wie Training, Coaching, Portfolio, die aus der Wirtschaft stammen, wandern in Richtung Sozialstaat.
Woran scheiterte der Dritte Weg? Zunächst daran, dass er von den Traditionsideologen des rechten und des linken Lagers erbittert bekämpft wurde. Der Begriff klang arg nach Mittelweg und Kompromiss. Echte Zukunftspolitik muss sich noch einen Schritt weiter und mutiger nach vorne wagen – aus den alten Denk- und Fühlmustern hinaus.
Das Reich der Zivilgesellschaft
Vor einigen Jahren führten die Verhaltenspsychologen Uri Gneezy und Aldo Rustichini ein Experiment in einer Kindertagesstätte in Israel durch. Die Eltern neigten dazu, die Kinder verspätet abzuholen, was für die Betreuer enorme organisatorische und zeitliche Probleme
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