Das Buch des Wandels
des »avuncular state«, des »Onkelstaats«. Wie ein Onkel eine gewisse kritische Distanz zu seinen Neffen halten muss, wäre der »Neo-Staat« eben kein bevormundender Nanny-Staat mehr, sondern ein Trainer:
»Ziel … ist nicht der ›Kindermädchen-Staat‹, ein schimpfender Spielverderber, der seine Schützlinge dazu zwingt, brav sein Gemüse zu essen und seine Medizin zu nehmen. Stattdessen haben wir einen welterfahrenen Staat vor Augen, der uns einen Schubs in die richtige Richtung gibt und womöglich die Fäden zu unseren Gunsten zieht, ohne dass wir dies überhaupt bemerken.« 14
Im realen Leben würde ein vernünftiger Onkel vielleicht den Führerschein bezahlen, aber nicht das Auto (und den auch nur, wenn der Neffe sich etwas selbst dazuverdient). Richard Thaler und Cass Sunstein haben dieses Prinzip in ihrem Buch »Nudge« als »Libertären Paternalismus« bezeichnet.
»Wenn jemand Zigaretten rauchen, jede Menge Süßigkeiten essen, eine ungeeignete Krankenversicherung abschließen oder nicht für sein Alter vorsorgen möchte, dann werden libertäre Paternalisten ihn weder daran hindern noch ihm Steine in den Weg legen. Dennoch versuchen private und öffentliche Entscheidungsarchitekten nicht nur, die vermuteten Vorlieben der Menschen vorherzusehen und umzusetzen, sondern sie geben den Leuten außerdem einen kleinen Stups in die richtige Richtung – einen Nudge.« 15
Hier ist es wieder, das »Entscheidungsdesign« der Verhaltenspsychologie, das Menschen helfen soll, aus freier Erkenntnis heraus bessere Entscheidungen zu treffen – wenn sie das möchten. Thaler und Sunstein vertreten ein neues »Sozial-Engineering«, das durch ständige Verbesserung der Feedback-Schleifen die Gesellschaft evolutionär voranbringt, anstatt Wandel durch Gesetze zu erzwingen. Einige praktische Beispiele:
Selbst-Commitment: In einigen US-Bundesstaaten können sich Spielsüchtige in einer Internetliste eintragen, die ihnen nach einer gewissen Spielzeit und bestimmten verlorenen oder gewonnen
Beträgen Hausverbot in Casinos erteilt – eine klassische Anwendung der Ankerungstheorie.
Visualisierung: Private Altersvorsorge ist vor allem deshalb so unterentwickelt, weil viele Menschen keine Vorstellung davon haben, wie es ihnen im Alter wirklich gehen wird – und diesen Gedanken so lange verdrängen, bis die Versorgungslücke womöglich zu groß ist. Durch drastische optische Darstellung ließe sich dieses Manko verbessern. Thaler und Sunstein schlagen vor, Rentensparpläne mit Bildern zu drucken, die zeigen, was man sich mit der entsprechenden Rente im Alter leisten oder nicht leisten kann. Eine Villa, eine Hochhauswohnung in Marzahn oder eine Obdachlosenabsteige am Rande einer Müllkippe.
Collective Compliance: Menschen reagieren selten auf staatlichen Druck, Zwang oder moralische Vorhaltungen, weil sie damit keine positiven Gefühle verbinden können. Sie definieren ihren sozialen Status im Vergleich zum Nachbarn und halten den Staat für einen Gangster. Der Staat Minnessota schickt seinen säumigen Steuerzahlern deshalb keine Mahnung mehr, sondern eine freudige Mitteilung, dass 90 Prozent der Steuerzahler bereits bezahlt haben! Es wirkt!
Antikorruptionsankerung: In Uganda kamen vor einigen Jahren nur etwa 30 Prozent der NGO-Spenden tatsächlich in den Schulen an. Dann wurden die bewilligten Bildungsmittel öffentlich an den Eingängen der Schulen ausgehängt. Danach erreichten rund 80 Prozent der Gelder die Schulen.
Die Messbarkeit der Maßnahmen
Wenn Politik nicht mehr Weltanschauungen oder Ideologien folgt, muss sie sich von modernen »Objectives«-Managementechniken leiten lassen. Ziele setzen, Ziele überprüfen und korrigieren, sich in langsamen Schritten nähern. »Evidence based politics« nennt sich dieser Weg in der angelsächsischen Politikdebatte.
Zunächst werden Fallbeispiele aus anderen Ländern oder Regionen herangezogen und evaluiert. Welches Schulsystem kitzelt besonders gut die Talente jedes Einzelnen heraus? Welche Politik hat es vermocht, den Anteil der Raucher in der Gesellschaft zu senken? Welche Migranten-Integrationspolitik zeigt die besten Ergebnisse? Welche Arbeitsmarktmaßnahmen bewähren sich? Mit welchen Methoden wurden Kriminalität und Drogensucht am besten reduziert? Schauen wir also auf andere Länder.
In einigen Regionen Finnlands, in denen die Herzinfarkt- und Schlaganfallraten aufgrund von Fehlernährung und mangelndem Bewegungsverhalten katastrophal hoch waren, gelang Ende der
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