Das Buch des Wandels
zeitigte. Appelle und die berühmten Zettel an der Wand brachten gar nichts. Also versuchte man es unter Anleitung der Wissenschaftler mit gesteuerten Anreizen. Man führte ein Bußgeld ein. Bei jeder Spätabholung mussten die Eltern ein Strafgeld zahlen, gestaffelt nach der Länge der Verspätung. Es
begann bei rund 5 Euro bei einer halben Stunde und stieg auf 10 bei einer ganzen.
Das Ergebnis war erstaunlich. Die Zahl der Eltern, die ihre Kinder zum Teil deutlich zu spät abholten, stieg. 12 Warum? Weil die Eltern nun in ihrer Wahrnehmung für die Regelüberschreitung schlichtweg bezahlten. Nun hatten sie das geldlich verbriefte Recht, etwas zu tun, was sie vorher nur mit schlechtem Gewissen taten.
Nach vier Wochen wurde die Regelung wieder abgeschafft. Aber die Zeitüberschreitungen blieben. »Mir ist das jetzt völlig egal«, sagten die Eltern. »Wenn die auf Geld verzichten wollen – na gut!«
In jeder Kultur existieren mehrere Ebenen sozialer Regeln, die nach verschiedenen Anreizen und Rückkoppelungen organisiert sind. Es gibt eine Welt, in der freiwillige und instinktiv erlernte Formen von Kooperation vorherrschen. Die alltägliche Höflichkeit, die Bereitschaft, einem Menschen, der in der Öffentlichkeit sichtbar Not leidet, zu helfen. Verwandtschaftliche Beziehungen. Aber auch die vielen Vereine, Clubs, Cliquen, die jeden Tag Billionen winziger sozialer Transfers organisieren. Diese Welt ist empfindlich, sie basiert auf ständig zu erneuernden Vertrauens- und Gegenseitigkeitsakten. Und es gibt eine Ebene des Marktes, der Entgelte und Gratifikationen, in denen ein »drittes Äquivalent« vorherrscht: das Geld.
Das Problem beginnt, wenn eine Sozialnorm auf eine Marktnorm trifft. Meistens gewinnt dann die Marktnorm, und das ist nicht immer ein Vorteil für die Kooperation. Manche Interaktionen zwischen Menschen wechseln mit Geld auf eine völlig andere Ebene. Wenn wir zum Beispiel unsere(n) Liebste(n) für ein gutes Kochen oder guten Sex bezahlen würden, hätten wir schnell ein, nun ja, ganz anderes Verhältnis definiert. Wenn wir, wie es inzwischen üblich geworden ist, das Zahlen von Steuern als reine Markthandlung definieren, kommen wir auf ein gefährliches Gleis. Wer viel Steuern zahlt, muss automatisch große Frustration
empfinden, weil die Autobahnen, auf denen er fährt, nie gut genug sind; die Politiker nie so gut funktionieren, wie er es für das viele Geld eigentlich erwarten darf! Er kann sich keine guten Lehrer für seine Steuern kaufen!
Der Unterschied zwischen zivilgesellschaftlichen und Markttransfers ist also in der Wirkweise begründet: Markt handelt von unmittelbaren Äquivalenten, Zivilgesellschaft von jenem sozialen Kapital, das wir langfristig durch Vertrauensvorschuss entwickeln (wir wissen nie genau, wie viel wir irgendwann »zurückgezahlt« bekommen). Erst in der Ergänzung wird eine vielschichtige, pluralistische Gesellschaft daraus, die Freiheit und Bindung zu üben und entwickeln vermag.
Allerdings: Wenn Unternehmen ihren Mitarbeitern eine neue Firmenkultur versprechen, in der familiäres Miteinander, Selbstverantwortung und Autonomie regieren sollen, dann ist das ein wunderbarer Fortschritt. Wenn dieselben Firmen in der nächsten Krise eine Menge Entlassungen verkünden oder beim nächsten Managementwechsel auf reines Kostenbremsen umsteuern, führt das zu einer doppelten Verletzung – und zur Verwahrlosung des Unternehmens. Deshalb ist es oft sinnvoller, ökonomische Beziehungen »pur und ehrlich« zu belassen.
Die kreative Politik
Es sind nicht zwei, sondern vier Spieler, die in ihrer Interaktion das erzeugen, was wir Gesellschaft nennen – und deren Zusammenspiel den gesellschaftlichen Wandel erzeugt:
- der Staat
- die Zivilgesellschaft
- das Individuum
- der Markt / die Wirtschaft.
Im alten Rechts-links-Denken wird stets ein Element ideologisch den anderen vorgezogen. »Der Staat muss es richten.« – »Der Markt
regelt es schon!« Linke ignorieren gern die Rolle der Zivilgesellschaft und die Verantwortung des Individuums, Rechte verherrlichen die Rolle des Marktes. Doch sozialer Fortschritt ist nur in der gemeinsamen Anstrengung zu haben, in der Synergie. Die Politik der Zukunft hat die verdammte Pflicht, als geschickter Mittler zwischen allen vier Akteuren aufzutreten.
Starker Staat: Die Forderung nach dem »schlanken Staat« hört sich gut an – wer möchte nicht weniger Steuern zahlen? Doch gerade im Übergang zur Wissensökonomie und zu einer neuen
Weitere Kostenlose Bücher