Das Buch des Wandels
Phase der Globalisierung ist der Staat kaum aus seinen Funktionen zu entlassen. In der Sicherheits- und Bildungspolitik verlangen wir zu Recht mehr Staat als früher. Anderseits sind die Möglichkeiten der Steuererhebung eingeschränkt. Kein Staat kann seinen Bürgern mehr abverlangen, als diese auf Dauer zu geben bereit sind. Deshalb ist die höhere Effizienz des Staates im Hinblick auf seine Kernaufgaben eine wichtige Forderung.
Starker Markt: Markt ist nicht überall die perfekte Lösung. Aber ohne Marktelemente funktionieren auch die öffentlichen Sektoren grottenschlecht. Märkte sind stark in ihren Rückkoppelungsfunktionen; dort, wo es auf Dynamik und Innovation ankommt, sind sie anderen Institutionen haushoch überlegen. Starke Sozialstaaten wie die skandinavischen Länder haben dennoch einen dynamischen Markt, und sie integrieren zunehmen marktwirtschaftliche Elemente in ihre Sozialsysteme. Erfolgreiche Wohlstandsländer wie die Schweiz nutzen Marktelemente im Rahmen kantonaler Steuerkonkurrenz – zum Wohl der Bevölkerung. Je stärker die Wirtschaft, desto mehr kann sie auch an den Rahmenbedingungen sozialer Fragestellungen mitarbeiten – selbst wenn das nicht ihre eigentliche Aufgabe ist.
Starke Zivilgesellschaft: Keine Gesellschaft, keine Kultur kann ohne das Geflecht der alltäglichen Kooperationen zwischen ihren Bürgern existieren. Die Strukturen dieser »freiwilligen Institutionen der Bürgergesellschaft« gehen vor allem auf das England des 18. Jahrhunderts zurück, als in der postfeudalen Kultur »Societies«
für jeden Zweck entstanden, Vereine, Assoziationen, Freiwilligenverbände zur »Verbesserung der Kondition der Armen« wie für die »Reformation der Sitten«, für »verarmte Seeleute« wie für Prostituierte, freigelassene Kriminelle und gefährdete Jugendliche. Alexis de Tocqueville erklärte mit diesen Formen der Bürgeraktivität den Unterschied zwischen feudalen und aufgeklärten Gesellschaften: In Aristokratien kann eine kleine Elite alle Pläne durch eigene Macht und die Unterdrückung anderer verwirklichen. In einer Demokratie ist der Einzelne generell machtlos, kann aber durch verstärkte freiwillige Kooperation seinen Wirkungsradius erhöhen.
Allerdings verändern sich die Strukturen der Zivilgesellschaft: Aus Zwangsmitgliedschaften von einst werden freiwillige Engagements, aus Dorfgemeinschaften urbane Nachbarschaftsmilieus. Nicht mehr nur die freiwillige Feuerwehr und die Kirchengemeinde bilden die Basis der Zivilgesellschaft, auch die Sportinitiative der schwulen Handballer oder der Initiativkreis Nordic Walking des Bäuerinnenverbands spielen in Zukunft eine Rolle. Ebenso wie das Internet, in dem sich heute eine Menge neuer »Kooperationen von unten« entfalten.
Abb. 26: Das Vier-Säulen-Modell als Grundlage ganzheitlicher Politik
Starke Individuen: Die überwiegende Mehrheit der Menschen verfügt über Selbsttechniken, die sie dazu befähigen, Veränderungen in ihrer Umwelt nicht nur zu erleiden, sondern auch zu gestalten. Diese Fähigkeiten in den richtigen Kontext zu setzen, ist die vornehmste Aufgabe der Politik. Ohne die Kraft des Einzelnen kann sich eine Gesellschaft nicht weiterentwickeln. Wir haben nicht zu viel Individualität, sondern zu wenig reife, entwickelte (Selfness-)Individualität.
In diesem Vier-Säulen-Gesellschaftsmodell wird die Politik von den Überansprüchen befreit. Nun kann es leichter gelingen, die Spielregeln im Sinne von Synthesen, Kooperationen und Win-win-Spielen neu auszuhandeln. Erinnern wir uns noch einmal an die Grundregeln des Zivilisationswandels. Gesellschaftlicher Fortschritt ist nur möglich, wenn alle Bereiche der Gesellschaft sinnvoll synchronisiert werden. Der »kreative Weg« wäre also nichts anderes als ein politisches Betriebssystem für eine pluralistische und individualistische Kultur, in der nicht mehr Klassen, Milieus, Konfessionen das Leben der Menschen bestimmen. In ihm würde das Sozialkapital konsequent in hybriden Strukturen erzeugt – vom Markt und vom Staat, aber immer unterstützt von den individuellen Bürgern und ihren Assoziationen. Norbert Bolz nannte dieses Ensemble »Sozialkapitalismus«. Dass es so etwas geben könnte, ist für die meisten Binärdenker des Politischen eine pure Provokation. Und gerade deshalb sind wir auf der richtigen Spur in die Zukunft. 13
Der Staat als Onkel
Für die Rolle des Staates in einer solchen »Politik jenseits der Lager« prägte der britische »Economist« den Begriff
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