Das Buch des Wandels
Alphabetisierung deutlich steigt, steigt auch die Lebenszufriedenheit. Menschen trauen sich mehr zu, sie beginnen, sich zu wandeln, sie entfalten sich. Wo hingegen das Bildungssystem auf das »Sortieren« der Schüler ausgerichtet ist (wie in den deutschsprachigen Ländern Zentraleuropas), sind die Menschen eher von Zukunftsängsten geplagt.
Nehmen wir nun an, wir könnten auf der Basis der Erkenntnisse der Glücksforschung einen neuen Gesellschaftsvertrag gestalten. Wie müssten wir die politischen Regeln, Gesetze, Spielweisen modifizieren, damit die Glückspotentiale wachsen? Zunächst müssen wir uns von der Opferlogik und der Moralrhetorik verabschieden, die den politischen Diskurs in Geiselhaft genommen haben.
Die neue soziale Frage
Sehen wir uns genau dieses Foto an. Was sehen wir?
a. Ein Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse.
b. Einen Menschen, der gescheitert ist.
Die spontanen Antworten erzählen Bände über unsere politischen Weltbilder. Mit a) sagen wir implizit: »Dieser Mann ist nicht für seinen Zustand verantwortlich und deshalb muss die Gesellschaft schleunigst für ihn aufkommen; sie ist verantwortlich für ihre Mitglieder!« Wir argumentieren »links«. Mit b) sagen wir: »Was immer diesen Mann in die Gosse gebracht hat, es hat mit seinen persönlichen Schwächen zu tun. Deshalb muss sich dieser Mann vor allem um sich selbst kümmern lernen.« Wir argumentieren »konservativ«.
Der Mann ist Gerhard, genannt »Hansi« (wobei ich das Foto aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verfremdet habe). Ein alter Bekannter von mir, über dessen Wohnort und Verbleib ich nicht allzu viel sagen möchte. Nur so viel: Er war vor 30 Jahren ein junger, idealistischer Hippie. Er hat in seinem Leben mehrmals großes Glück gehabt, aber viele Male auch verdammtes Pech. Er ist keineswegs unschuldig an seiner Situation. Aber auch nicht völlig allein verantwortlich.
Gerhard hatte im Lauf der Jahre Anrecht auf eine Menge sozialer Leistungen und Unterstützungen eines zwar bürokratischen, aber dennoch um konkrete Hilfe aller Art bemühten Sozialsystems. Er konnte mit Psychologen sprechen, warme Mahlzeiten in Anspruch nehmen, sogar eine Wohnung stand ihm zu. Er kann bis heute Umschulungen und Trainingsprogramme aller Art nutzen. Er nahm und nimmt die meisten dieser Angebote nicht an. Er ist immer noch recht klug im Kopf, aber er altert schnell, wegen der Drogen, aber auch, weil er sich selbst in eine Rollendefinition begeben hat, aus der ihn wohl alle Therapien der Welt nicht mehr herausholen können.
Sein heutiger Zustand lässt sich etwas besser erklären, wenn man seine Kindheitsgeschichte kennt. Hansi, das vierte von sieben Kindern eines Gastwirts im Zentrum eines Industriegebietes, hatte einen prügelnden, alkoholkranken, misshandelnden Vater und eine depressive Mutter. Er schaffte in den siebziger Jahren eine Ausbildung zum Koch und geriet eine Zeitlang in die damalige linke Lehrlingsbewegung. Er lebte Anfang der Achtziger in einem besetzten Haus in Berlin, wo er Drogen nahm, ohne sich viel um die Folgen zu kümmern. Das machten in diesem Milieu alle.
Hansi ist mindestens zweimal im Leben von einer Frau wirklich geliebt worden. Viele andere Menschen haben versucht, sich privat, also ohne administrative Interessen, intensiv um ihn zu kümmern. Manche auch sehr persönlich, unter hohem Einsatz. Es hat nichts gebracht. Hans lebt noch, immerhin.
Die Wahrheit über Hansi lautet, dass er weder Täter noch Opfer ist: Er ist ein Mensch, der ein schweres Schicksal erlitten hat und bei dem die Gesellschaft, also wir alle, es nicht geschafft hat, diese Defizite wieder auszugleichen.
Wir alle sind immer eine Mixtur: aus Anlagen, Prägungen aus unserer Kindheit, vertanen und wahrgenommenen Chancen, verpassten Anschlüssen oder missglückten Ausbruchsversuchen. Daraus entsteht die Landkarte unseres Schicksals, mit all ihren Verzweigungen und Auffahrtsrampen, Schleifen und Abgründen.
Abb. 25: Eine Lebenslandkarte
Die Basis unseres Lebens wird in der Kindheit gelegt. Eine gute Schule kann Probleme, Traumata, Schädigungen kompensieren, eine schlechte Erfolge zunichtemachen. Wichtig, neben den Eltern, sind stabile Bezugspersonen, Vorbilder, aber auch die Peers der Jugend, an denen wir entweder wachsen oder scheitern. An jedem Punkt unseres Lebensspiels gibt es Entscheidungsknotenpunkte (in der Sprache der Wissenschaftler auch Bifurkationen genannt, wenn es um die Beschreibung der Veränderung dynamischer
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