Das Buch des Wandels
solcher Zufälle zu Karrierechancen macht. Malcolm Gladwell hat sich in seinem Buch »Überflieger« gefragt, wie Genies, Stars, berühmte Leistungsträger, Überflieger eben, entstehen. Sein trockenes Fazit: Supererfolgreiche Menschen sind das Resultat einer Mischung aus Milieu, Förderung, Zufall und Geburtsdatum. Und die Korrelationen zwischen diesen Faktoren sind chaotisch. In so gut wie jeder Familie mit einem Prominenten gibt es den unbekannten, abgestürzten Bruder, die Schwester mit alkoholischen Depressionen. Zahlreiche Genies hatten nie das Glück, ihre Fähigkeit ökonomisch zu nutzen – man nennt sie dann Käuze oder Exzentriker. Konsistent erscheint uns unsere soziale Umwelt nur, weil wir von den Millionen nichterfolgreicher Talente gar nichts wissen. Wir beurteilen die Welt von ihrem Resultat her. Und dann erscheint der Erfolg von Bill Gates und Dieter Bohlen irgendwie völlig … logisch … und ungerecht sowieso.
Das Korsett des Lagerdenkens
Politik in einer pluralen Gesellschaft ist also unfähig zu normativer Gerechtigkeit. Sie kann Gerechtigkeit allenfalls annäherungsweise als das Summenergebnis möglichst vieler »Spiele« herstellen, in denen die sozialen Gewinnchancen größer sind als null. Sie kann das (in Kapitel 8 geschilderte) Win-lose-Spielbrett modifizieren, Regeln verbessern, Agenten auf das Feld schicken. Wenn sie jedoch versucht, die Ergebnisse der sozialen Spiele zu bestimmen, zerstört sie sofort den zentralen (Coping-)Impuls, der die gesellschaftliche Evolution überhaupt möglich macht.
Das Eingeständnis dieser Tatsache wäre heilsam für unser politisches System – und produktiv für unser politisches Denken. Denn der politische Diskurs neigt zu einer moralisierenden Logik, und die hat zur Folge, dass sich immer mehr Gruppen als »Opfer der Gesellschaft und des Staates« betrachten. Lobbyismus und Opfertum werden, geschürt von Medien und Populisten, auf fatale Weise vermengt, was jede rationale Auseinandersetzung mit dem Thema der sozialen Differenz verhindert. Soziale Unterschiede gelten als generell böse – und damit triumphiert die politische Schlichtheit.
Kreative Politik kann versuchen, das soziale Spielfeld auszuweiten. Sie kann die Anzahl der Revisionschancen erhöhen. Sie kann der »Botschaft des Flugverkehrs« folgen und die Robustheit und Interdependenz sozialer Systeme verbessern. Wer fällt, wer strauchelt, wer nicht mitkommt, wird in ein Netz an Hilfsangeboten eingebunden, die ihn fördern und fordern. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ist eine solche politische Grammatik »rechts«? Wäre sie »links«? Brauchen wir »mehr Staat« oder »mehr Markt«? Wie weit können diese politischen Lagerklischees überhaupt noch von Nutzen sein? Der Historiker und Unternehmer Peter Barnes schreibt dazu:
»Das irritiert mich als eine der großen Absurditäten unserer Zeit: Jahrzehntelang hat die Rechte gesagt – nein: geschrien! -, dass der Staat verdorben ist, dass nur Privatisierung, Deregulierung und Steuersenkungen uns retten können. Genauso lang hat die Linke insistiert, dass Märkte verdorben sind und nur der Staat uns retten kann. Das Problem ist, dass beide Seiten halb richtig und halb falsch liegen. Sie haben beide recht, dass Märkte und staatliche Strukturen fehlerhaft sind, und liegen beide falsch, wenn sie sagen, dass die Rettung nur von einer der beiden Seiten kommen kann. Aber wenn das der Fall ist, was tun wir dann? Gibt es vielleicht Institutionen, die uns fehlen und die uns helfen könnten?« 9
Wieso bleibt das Rechts-links-Schema so hartnäckig am Leben, dass es sich regelmäßig vor jeder Wahl zu den alten (dummen) Parolen verdichtet und dabei auf Dauer die gesamte Kultur der Politik von innen ruiniert? Ein Teil der Antwort liegt sicher in unseren Medien, die gern mal aus dem politischen Spiel den Honig des Skandals saugen. Eine andere Triebkraft dieses Festhaltens an der Lagerlogik der alten Klassengesellschaft ist die Heuristik, mit der Menschen schwierige Sachverhalte mental zu vereinfachen suchen. Gerd Gigerenzer beschreibt in »Bauchentscheidungen« unser politisches Lagerdenken als »Perlenkettenlogik«. 10 Weil das Gros der Wähler mit der Komplexität der Politik überfordert ist, sortieren sie die Parteien nach einem einfachen Ordnungssystem, das sich über Jahrhunderte bewährt hat, dem einer »Perlenkette«, auf der die Parteien nebeneinander aufgereiht sind, obwohl dies immer weniger der politischen Wirklichkeit entspricht.
Als
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