Das Buch des Wandels
Tierarten. Menschen verfügen über eine besonders ausgeprägte Stresskaskade. Immer wenn wir einer Gefahr oder Herausforderung begegnen, läuft in unserem Gehirn eine Kettenreaktion ab. Je nachdem, wie unser Wahrnehmungssystem die Gefahr einordnet, bringt das Hirn einen spezifischen Hormoncocktail in den Blutkreislauf, bei dem die Substanzen Cortisol, Noradrenalin und Adrenalin die wichtigste Rolle spielen. Wir alle kennen die körperlichen Symptome, ob bei Prüfungen, einer plötzlich gefährlichen Situation oder prekärer Verliebtheit: Unser Herz beginnt zu schlagen, es klopft in den Ohren, unsere Schweißporen öffnen sich, die Muskeln spannen sich an, der Atem geht schneller, der Blutdruck steigt, die Darmtätigkeit wird erst herauf-, dann herabgesetzt. Der Körper ist alarmiert.
Auch viele Tiere, etwa Schweine und unsere nächsten Verwandten, die Primaten, verfügen über Angstreaktionen. Aber
bei Tieren wirkt die Kaskade reflexhafter. Bei Menschen hingegen wird auch das Hirn selbst in Alarmfunktion gesetzt. Wenn wir in Gefahr geraten, schärfen sich unsere Sinne manchmal bis zur Unerträglichkeit. Blitzschnell spielen wir Optionen durch. Verletzte Soldaten oder Opfer von Gewaltübergriffen berichten, dass sich in entscheidenden Momenten »die Zeit dehnt«. Alle mentalen Reserven werden auf Wahrnehmung und Informationsverarbeitung gestellt – als könnte man eine Gewehrkugel auf sich zufliegen sehen und rechtzeitig ausweichen.
Die neuroendokrine Stressreaktion wird dirigiert durch die Amygdala, eine »Angstdrüse« im Hirnstamm. Durch dieses Organ »erfand« die Natur vor einigen hunderttausend Jahren einen wirkungsvollen Mechanismus, um das Überleben von Organismen auch in Situationen sicherzustellen, in denen sich die Umwelt plötzlich und radikal ändert. Im Unterschied zu Reptilien und Sauriern, die Millionen Jahre die Biosphäre beherrschten, ermöglicht das menschliche Hirn weitaus komplexere und flexiblere Reaktionen. Wenn es dauerhaft wärmer oder kälter wurde, wenn sich Nahrungsketten, Klimaverhältnisse, Beuteschemata veränderten, waren »festprogrammierte« Hirne mit puren Reflexen ziemlich hilflos. Menschliche Hirne können sich hingegen etwas einfallen lassen. Angst verändert das Spektrum der Möglichkeiten.
Die Psychologie hat sich auf die Großen Sechs der fundamentalen menschlichen Gefühle geeinigt: Ärger, Traurigkeit, Freude (oder Vergnügen), Angst, Ekel und Überraschung. Es ist kein Zufall, dass die meisten dieser Gefühle negativ sind: Überleben konnten unsere Vorfahren nur, wenn sie bei Ekel zurückwichen, bei Überraschungen erst einmal auf Distanz gingen und ihrem Ärger in den richtigen Momenten aggressiven Lauf ließen. Angst als negatives »Königsgefühl« rettete der Menschheit im wahrsten Sinn das Leben.
Stressreaktionen haben vielfache Auswirkungen auf den Organismus. Sie dienen zur Mobilisierung kurzfristiger Kraftreserven. Einige Stresshormone, vor allem die Glucokorticoide und die
Noradrenaline, haben jedoch auch eine Langzeitwirkung: Sie helfen dem Körper, in Mangelsituationen länger durchzuhalten. In Hungerperioden konnten unsere Vorfahren so die letzten Reserven aus sich herausholen.
Allerdings hat dies alles seinen Preis: Hohe Stresspegel über längere Zeit führen fast immer zu Folgeschäden. Stress »raubt uns den Schlaf«, macht uns gereizt und nervös. Dauerhaft führen die Alarmsubstanzen zu Diabetes und anderen schwerwiegenden Krankheiten. Dauergestresste Menschen halten nur vorübergehend besser durch. Manager arbeiten hocheffektiv, bis sie der Herzinfarkt ereilt.
Unser Angstsystem ist das Ergebnis eines evolutionären »high tuning«. Der menschliche Organismus ist ein äußerst fein und scharf eingestelltes »Gerät«, das auf alle möglichen Alarme und Bedrohungen reagieren kann, und das, anders als bei anderen Spezies, auch vorsorgend und antizipierend! Aber diese Sensibilität macht unseren Körper andererseits anfällig für Fehlfunktionen. Menschen können nämlich selbst dann Angst empfinden, wenn gar kein realer Angstauslöser existiert. Sie können sich regelrecht in Ängste hineinsteigern. Die Amygdala kontrolliert dann immer mehr Hirnfunktionen – bis sie irgendwann auch die kognitiven Systeme »übernimmt«.
Jennifer Whitson, eine Verhaltens- und Wirtschaftswissenschaftlerin, hat in Experimenten nachgewiesen, dass Aberglaube und Verschwörungstheorien unmittelbar mit psychischer Anspannung verknüpft sind. Sie zeigte den Teilnehmern
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