Das Buch des Wandels
ihrer Versuche chaotische Muster von Punkten und unterwarf einen Teil der Menschen Stresssituationen. Die Folge war, dass etwa die Hälfte der Probanden plötzlich Totenköpfe, Sanduhren oder Delphine im Punktewirrwarr erkannte. Wenn man den Teilnehmern Börsendaten oder Kennziffern von Firmen vorlegte, erkannten sie unter Stress plötzlich »eindeutige Trends«. Menschen in Angstzuständen identifizieren Muster in ihrer Umwelt, die gar nicht vorhanden sind – weil ihr Hirn hierfür übersensibel ist. 8
Der Sinn jeder Angst-und-Stress-Kaskade ist eine Handlung, die zur Bewältigung der unangenehmen oder bedrohlichen Situation führt. Aber was geschieht, wenn keine Bewältigung möglich ist?
Schock- und Ohnmachtserfahrungen wie Gewalt, Missbrauch, Verlassenwerden lagern sich tief in unseren mental-körperlichen Strukturen ab. Dabei werden Zellen im Hirn, die mit der Stressreaktion in Verbindung stehen, regelrecht umprogrammiert. Wir sprechen dann von Traumatisierung . Traumatisierte Menschen reagieren bei jeder Andeutung von Verlust, Problem, Mangel, Konflikt mit der Stresskaskade. Die geringste Ahnung einer Gefahr – ein Gedanke, ein Geruch, eine Erinnerung – löst die Reaktion aus. Wir werden angstprogrammiert. 9
Mutationen der Angst
Die afrikanische Wüstenheuschrecke (Schistocerca gregaria) ist in ihrem Normalzustand ein schüchternes, eher bodenständiges Tier. Ein Einzelgänger in den Savannen- und Wüstenrandgebieten des afrikanischen Kontinents. Sie hält sich entfernt von ihren Artgenossen, brütet in langen Zyklen vor sich hin – eine durchaus bescheidene, in einer Nische überlebende Spezies.
Manchmal allerdings, wenn sich die Lebensbedingungen durch anhaltende Trockenheit dramatisch verschlechtern, geht über Nacht eine Verwandlung mit der afrikanischen Wüstenheuschrecke vor sich. Die Individuen ändern dann plötzlich ihr Sozialverhalten. Sie sammeln sich und kitzeln sich gegenseitig mit den Hinterbeinen – und setzen dabei in ihrem Inneren große Mengen des Botenstoffes Serotonin frei.
Serotonin ist, biochemisch betrachtet, so ziemlich das Gegenteil von Adrenalin. Im menschlichen Körper stabilisiert es die Körpertemperatur, den Blutdruck und die Stimmungslage. Serotonin wirkt wie eine Art inneres Kokain: Menschen mit hohem Serotoninpegel erleben ein Gefühl von Bewältigung, Wachheit,
Überlegenheit, das bis zur Euphorie reicht. Wer zu wenig Serotonin im Blut hat, leidet fast immer unter Depressionen.
Stellen wir uns vor, wir würden Serotonin und Angsthormone kombinieren. Ein Höllencocktail: Angst, kombiniert mit Euphorie! Genau diese Kombination findet man in hoher Dosis vermehrt im Blut von Amokläufern, Diktatoren und Serienmördern. Und wahrscheinlich Finanzspekulanten.
Die Farbe der Heuschrecken verändert sich nach der Serotonin-Ausschüttung in wenigen Stunden von gelbgrün zu grau und braun, mit scharf-akzentuierten Punkten, die an eine Maske oder Ritterrüstung erinnern. Und plötzlich, wie von Geisterhand koordiniert, erheben sich Tausende, Millionen von Heuschrecken zu einem gierigen, kollektiven, mächtigen, alles verderbenden Schwarm, der ein Gesamtgewicht von 1500 Tonnen erreichen kann und eine Biomasse von gleicher Größe im Laufe eines Tages vernichtet: die biblische Heuschreckenplage.
Nun kann man Insekten vielleicht nicht direkt mit Menschen vergleichen. Aber auch aus Menschenpopulationen kennen wir dieses Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Syndrom – die friedlichsten Gemeinwesen können sich in eine mörderische, fanatische Truppe verwandeln. Aus Hobbits werden Morlocks. Auf verblüffende Art und Weise bildet die Metamorphose der Heuschrecken eine Allegorie für die Verwandlung der kulturell hochentwickelten Maya in »schwärmende Krieger der Apokalypse«. Als wäre die Metamorphose des Schmetterlings grundlegend schiefgegangen …
Jared Diamond hat in seinem Bestseller »Kollaps« den Untergang der Maya-Kultur auf den »malthusianischen« Effekt reduziert. Die eher unfruchtbaren Böden des Dschungels, die Bevölkerungsexplosion, die Erosion durch radikale Rodung, die ungenügenden Anbau- und Bewässerungstechniken – all das habe in eine finale Ressourcenkrise geführt. 10 All das ist sicher wahr, aber es beleuchtet nur einen Teil des Maya-Kollapses, den »materialistischen«. Eine Frage bleibt dennoch offen: Warum waren die Maya nicht in der
Lage, soziale, technische, kulturelle Lern prozesse zu organisieren und einen Wandel herbeizuführen?
Um uns der Antwort zu
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