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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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Simulationstechniken. Peter Sloterdijk unterscheidet die »sozio-immunologischen Praktiken« der Gesetze und Regeln und die »psycho-immunologischen Praktiken«, mit denen Menschen versuchen »ihre Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr oder weniger gut zu bewältigen.« 14
    »Nicht die Dinge selbst beunruhigen den Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen«, schrieb der griechische Denker Epiktet. Die Maya haben in ihrer Not und Hilflosigkeit gegenüber den Naturmächten ihren virtuellen Raum so weit ausgedehnt, bis er die gesamte Wirklichkeit überschwemmte. Schließlich lebten sie in einer Welt, in der jeder Stein, jeder Flug eines Vogels, jeder Punkt am Himmel, jeder Moment der Zeit mit symbolisch-magischer Bedeutung aufgeladen war. Die Maya erstickten an Bedeutungen. Sie träumten nicht nur schlecht, sie wachten gar nicht mehr aus ihren Träumen auf! Sie hoben ab in eine apokalyptische Traumzeit, aus der es keine Rückkehr mehr gab.

    Abb. 3: Die Virtualität frisst die reale Welt.

    Kommt es zu einer solchen Totalvirtualisierung, sehen Menschen im wahrsten Sinn des Wortes Gespenster. Sie können nicht mehr zwischen Außen und Innen unterscheiden. Fanatisch werden sie irgendwann damit beginnen, innere Feinde zu produzieren. Gewalt und Hass sind nichts anderes als das Ventil der Angstkaskade.
    Die Maya hatten sich mit ihrem »Aufstieg« von einer dem Dschungel angepassten Jäger-und-Sammler-Kultur zu einer Hochkultur schlichtweg übernommen. Sie verfügten weder über die Technologie noch über die Soziotechniken, um den Naturkräften, die sie umgaben, eine lernende Balance entgegenzusetzen. Die eigentliche Ursache ihres Untergangs war eine irreversible Traumatisierung.
    Ist das alles wirklich so weit weg? Und so selten?

Das Tur-Tur-Syndrom
    Wieso geraten Menschen – Individuen und Gruppen – immer wieder in solche Negativschleifen? Begeben wir uns noch einen Schritt weiter auf das Feld der evolutionären Kognitionstheorie. Stellen wir uns, einen kleinen Moment nur, einen Säbelzahntiger vor. Was sehen wir vor uns? Wahrscheinlich wissen wir nicht genau, wie ein Säbelzahntiger aussieht (wir sind seit bald 20 000 Jahren keinem mehr begegnet). Trotzdem wird folgendes Bild vor unserem inneren Auge entstehen: lange Reißzähne – aufgerissener Rachen – geschwollene Muskeln – riesiger Körper!
    Wir modellieren den »inneren« Säbelzahntiger entlang den uns anthropologisch vorgegebenen Angstauslösern. Das, was wir gerade »gesehen« haben, könnte ebenso gut zu einem Bären, einem Bernhardiner, einem Wolpertinger oder einer Siamkatze gehören. Aber das Bild »macht Sinn«, wenn es um die Grundfrage der Existenz geht. Flüchten oder kämpfen (im Falle des Säbelzahntigers wohl eher flüchten).

    Evolutionsbiologisch ist diese kognitive Vereinfachung äußerst sinnvoll. In bedrohlichen Situationen kann man oft gar nicht so schnell nachdenken, wie man reagieren muss. Unsere Urahnen mussten, wenn sie real auf den Säbelzahntiger trafen, nicht unbedingt alle Details des Artenbestimmungsalbums kennen. Sie mussten nicht wissen, dass es Smilodon populator war, der ihnen auflauerte. Sie mussten vor allem rasend schnell ihren Adrenalin-Level nach oben bringen, der sie dazu befähigte, schnell zu rennen!
    In unserer in Jahrmillionen der Evolution geprägten Wahrnehmung existiert so etwas wie »kognitive Präselektion«. Erregung schaltet die feineren, differenzierteren Wahrnehmungssensoren ab – im Dienste einer besseren Gegenwartskontrolle. Je größer die Angst, desto weniger Differenziertheit findet sich in unserem kognitiven Verarbeitungsapparat. Besonders ängstliche Menschen – und Gruppen – neigen deshalb zu Klischees und Verallgemeinerungen. Das wusste schon Nietzsche, der schrieb:
    »Etwas Unbekanntes zu etwas Bekanntem zurückzuverfolgen ist lindernd, beruhigend, belohnend; es verleiht das Gefühl von Macht. Gefahr, Unruhe, Angst sind mit dem Unbekannten verbunden – der erste Instinkt ist es, dies zu beseitigen. Erstes Prinzip: Irgendeine Erklärung ist besser als keine. Der Impuls, unentwegt nach Gründen zu suchen, ist zutiefst in der Angst begründet.« 15
    Unser Hirn funktioniert nach einem Schichtenmodell, das die evolutionären Entwicklungsstufen wiedergibt: Ganz unten, im limbischen System, sitzt unser altes Reflexzentrum, das uns zur sofortigen Flucht oder entschiedenem Kampf zwingt. Darüber

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