Das Buch des Wandels
Lebens und des Sports.
In der Zeit dazwischen ist die Welt offenbar eine andere. Die Körperhaltungen schienen sich regelrecht aufzulösen. Obwohl es sich um durchaus offizielle Fotos handelt, funktioniert das Posieren nicht richtig. Kaum jemand schaut in die Kamera. Die Gestik wirkt schlaksig, locker, entspannt. Eine wilde Truppe mit Albernheit, Witz, Coolness. Der Große Aufbruch. Rock’n’ Roll eben.
Es ist praktisch egal, welches Bilddokument aus der Zeit zwischen 1968 und 1974 wir zur Hand nehmen. Illustrierte, Familienalben, unsere Schulklassenbilder, Filme, selbst Fernsehsendungen, sie alle zeigen die Formen einer sozialen Metamorphose. Für ein knappes, wildes Jahrzehnt ändern sich die Selbstbilder, die Wahrnehmungen der Welt und ihrer Umstände, die Farben (bunt, laut, quietschig), die Töne und Gerüche. Aus ernsten zurückhaltenden Männern werden langhaarige androgyne Beaus. Aus schüchternen jungen Frauen blonde Girls, die mit tiefen Cayalaugen geradezu gewalttätig sexy gucken. Etwas Kühnes, Glänzendes, Verwegenes liegt in den Gesichtern, aber auch Verträumtheit, Arroganz, Narzismus, eine scheunentorgroße Verletzlichkeit …
»Achtundsechzig« – oder genauer: der »jugendzentrierte Wertewandel der späten sechziger Jahre« – ist ein gutes Beispiel für einen Hot Spot des Wandels. Viele empfinden diese Revolte heute als einen kurzfristigen Ausbruch modischer Exzesse – Woodstock war kein spirituelles Massenerlebnis, sondern eine Müllgrube, lange Haare kein Revoltesymbol, sondern schlichte Verwahrlosung. Natürlich ist da etwas dran. Aber alle großen Themen, die uns heute beschäftigen, wurden in der 68er-Epoche geprägt: Umweltschutz, Spiritualität, Individualisierung, Emanzipation, partizipatorische Demokratie, neue Formen des Zusammenlebens jenseits der Kernkleinfamilie, die Wertesysteme eines »soften Individualismus«,
die Frage nach einer ethischen Wirtschaftsordnung, die wir heute im Rahmen der Krise wieder diskutieren.
Um die wahre Bedeutung von »Achtundsechzig« zu verstehen, müssen wir deshalb unter die Oberflächen der Symbole blicken. Aus welchen Gründen sind Männer attraktiv für Frauen – und umgekehrt?
Ohne Zweifel gibt es durch die Zeiten hindurch konstante Attraktivitätsideale. Griechische Nymphen, in Stein gehauen, drücken auch heute noch Schönheit und Attraktivität aus. Von einigen Varianten von Tellerlippen und Schrumpffüßen oder Maya-Schönheiten mit gewaltsam begradigten Nasen abgesehen, ist erotische Attraktivität an evolutionäre Konstanten gebunden.
Nehmen wir das berühmte Taille-Hüfte-Verhältnis – die weibliche Körperform, die für Männer erotisch attraktiv erscheint. Marilyn Monroe, das Frauenideal der frühen sechziger Jahre, hatte eine klassische Barbie-Figur: 99-46-84. Große Brüste, schlanke Taillen und breite Hüften gelten in der Wahrnehmung der Evolutionsbiologen als Anzeichen für hohe weibliche Fruchtbarkeit; deshalb fliegen Männer praktisch aller Kulturen auf weibliche Spindelfiguren.
Flogen.
Elisabeth Cashdan, eine amerikanische Anthropologin, fand heraus, dass sich das Körperideal mit der zunehmenden ökonomischen Selbstständigkeit der Frauen verändert. In Kulturen, in denen Frauen auch heute noch die klassische Heim-und-Herdrolle innehaben, gelten »Spindel-Frauen« nach wie vor als erotisches Ideal. Bei höherem weiblichem Bildungsgrad und mehr eigenem Einkommen verändert sich das (von Männern rezipierte) Schönheitsideal innerhalb einer oder zwei Generationen: Nun präferieren Männer »robustere Frauen« mit kleineren Brüsten und kompakteren Körpern. Eine klassische »memetische Adaption«. In Japan, Griechenland und Portugal, Ländern mit traditionellen Rollen, ist heute noch die Barbie-Form hochbegehrt. In Großbritannien, Skandinavien, aber auch in traditionalen
Kulturen mit starken Frauentätigkeiten, wie etwa in Tansania (M’bekwale also) und Peru, gelten solche Formen als »krank und übertrieben«. 1
In den späten sechziger Jahren werden die Frauenbilder plötzlich androgyn – das Twiggy-Ideal ersetzt die Dominanz der weiblichen Üppigkeit durch knabenhafte Laszivität. Und Männer bekommen lange Haare. Wieso das?
Haare haben vielfältige symbolische Bedeutungen. Im Mittelalter, auch im Rokoko, gab es Moden langer männlicher Haartracht als »aristokratische Zierde«. In Bärten hingegen manifestiert sich oft das patriarchale Prinzip, man kann sie aber auch als Zeichen des »Bohemienismus« einsetzen,
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