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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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als Signal der bewussten Verwilderung. Offene weibliche Haare signalisieren in vielen Kulturen, etwa im Islam, einen gefährlichen erotischen Reiz. Scham- und Ehrenkulturen neigen deshalb zum Verbergen der weiblichen Haare – und zum demonstrativen Zeigen der männlichen (Bart-)Haare.
    Die Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war von einer enorm leistungswilligen Männergeneration dominiert, deren Vergangenheit durch das Militärische geprägt war. Kurze Haare standen in diesem Kontext für Anpassungsbereitschaft und Disziplin. In den Fabriken, die in den fünfziger und sechziger Jahren in der westlichen Welt voll »unter Dampf« standen, waren kurze Haare schon aus praktischen Gründen Pflicht. In den USA war der Bürstenhaarschnitt des Militärs ein Symbol für den hässlichen Vietnamkrieg.
    In den langen Haaren der Männer vereinigte sich also eine erotische Signalsprache mit dem Protest gegen eine militärisch-nationalistisch geprägte Kulturordnung, die die Zeit seit Beginn der Industrialisierung um 1800 geprägt hatte. Doch warum kam es ausgerechnet jetzt zum Wildwuchs? Weil in den Jahren zwischen 1960 und 1970 praktisch alle Parameter des westlichen Modells einen kritischen Punkt erreichten – in der Technologie, in der Ökonomie, in der Sozialstruktur.

    Im Zentrum stand, wie so oft, der Wandelfaktor der Produktivität . Die Industriegesellschaft, die sich seit Watts Erfindung der Dampfmaschine über die Welt ausbreitete, war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts keine echte Wohlstandsgesellschaft. Die Löhne stiegen von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg kaum an; ein mittlerer Arbeiterlohn blieb eine karge Lebensgrundlage. Doch nach dem Krieg zündete der westliche Wohlstandsmotor auf ganz andere Weise. Die durch neue Verkehrstechnik erschlossenen globalen Handelsräume, die Verbesserungen besonders bei der Prozesstechnologie führten in nur zwei Jahrzehnten zu einer Vervierfachung der Löhne. In den großen Städten entstand, durch Kriegszerstörungen noch beschleunigt, rasend schnell neuer Wohnraum. Die boomende Industrie mobilisierte die gesamte Gesellschaft, nicht mehr nur die Armen der Agrarregionen. Junge Paare wohnten plötzlich weit weg von den Eltern. Die Massenproduktion machte nun Produkte für alle zugänglich, die früher als reiner Luxus galten. Teenager konnten plötzlich über eigene Unterhaltungselektronik verfügen – der eigene Plattenspieler im Zimmer war ein gewaltiger Durchbruch kultureller Verfügungsmacht. Wo bislang im Wohnzimmer »aufgelegt« wurde, und zwar nach dem Musikgeschmack der Eltern (»La Paloma« bis Brahms), konnten sich nun Jugendliche in ihre eigenen akustischen Räume zurückziehen.
    Wohlstand schafft Freiräume. Wahlmöglichkeiten erzeugen Spannungen zwischen dem Alten und dem Neuen. Das Moped, der eigene VW Käfer machte die junge Generation unabhängig. Der Aufbruch in ferne Länder und andere Kulturen begann. Millionen junger Menschen merkten plötzlich, dass es nicht nur einen Weg gab, zu denken, zu leben und zu lieben. Gleichzeitig führte die Expansion des Bildungssektors dazu, dass Millionen junger Menschen das Elternhaus verließen, ohne zu heiraten. In den neuen Studentenmilieus bereitete sich die Werterevolte vor, und von hier breitete sie sich wie ein Lauffeuer bis tief in die Mittelschicht aus.

    In der neuen Erwerbsgesellschaft wurden die sozialen Rollen neu definiert. Vor dem Krieg galt Erwerbsarbeit bei Frauen eher als Zeichen für Armut: Um eine Familie durchzubringen, mussten Frauen einfache Arbeit in Fabriken annehmen. Jetzt eröffnete sie neue Wege, waren junge Frauen nicht mehr gezwungen, für den Auszug von zu Hause und ein wenig Verfügungsmacht über das eigene Leben zu heiraten. Und plötzlich änderte sich ihr Partnerselektionsverhalten.
    Frauen begehren und erwählen Männer, wenn sie ihnen – bewusst oder unbewusst – in ihre genetischen und biographischen Pläne passen. Bis tief in die sechziger Jahre hinein suchten Frauen in Männern primär den Ernährer, der ihnen den Weg in die Mutterschaft ebnete. (Meine humorvolle Großmutter sagte immer: »Gut aussehen soll er auch, ist aber nicht wesentlich!«) Genau an dieser Front kam es nun zu einer Bruchlinie. Viele junge Frauen hatten nicht mehr die geringste Lust, mit 19 zu heiraten und dann Männern zu dienen, die von früh bis abends in Fabrik oder Büro arbeiteten.
    Der langhaarige Mann konnte unter diesen Umständen zur erotischen Ikone werden, weil er eine neue, aufregende Botschaft

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