Das Buch des Wandels
transportierte: erotische Rollenvarianz! Lange männliche Haare signalisierten: Ich verfüge über weibliche Verhaltensoptionen! Ich habe einen kreativen Lebensentwurf! Ich werde mein Geld nicht durch mühsame Büroarbeit verdienen! Ich werde Popstar statt Fabrikarbeiter! Rock it, baby!
Ach so: Und ich werde mich um die Kinder kümmern!
Vor allem letzteres Angebot war historisch tatsächlich neu (und wie sich herausstellte, auch noch nicht allzu seriös). Aber es ebnete neuen Fantasien des Lebens und der Liebe den Weg. Und deshalb waren die romantischen, verwilderten, langhaarigen Jungmänner, die Beatles-Typen, die Stones-Machos, die zarten und elegischen Rainer-Langhans-Typen, einige goldene Sommer lang den Kurzhaarigen haushoch überlegen. Wenn es um das Flirten mit den schönsten und vor allem klügsten Mädchen ging, schlugen »wir« (die Langhaarigen) »die« (die kurzhaarigen Ärztesöhne) um Längen.
Der Reigen der Generationen
Die Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels – das Tempo der sozialen Innovation – wird erheblich vom Lern-, Lehr- und Machtverhältnis zwischen den Generationen gesteuert. Margaret Mead, die berühmte Anthropologin, beschreibt in ihrem Klassiker »Der Konflikt der Generationen« 2 die diversen Generationskontrakte: In »postfigurativen« oder auch »Gehorsamskulturen« wird alles Wissen aus der Vergangenheit bezogen und autoritär von oben nach unten vermittelt, von den Eltern zu den Kindern. In »konfigurativen« Gesellschaften (die Mead in den polynesischen Gesellschaften der Südsee entdeckte) werden die meisten Prägungsprozesse innerhalb und mit der jeweiligen Alterskohorte vollzogen. Man lernt von den »Peers«, den Gleichaltrigen. Kinder und Jugend-liche leben bis zum Erwachsenenalter in einem eigenen, autonomen Erfahrungsraum, in dem die Alten wenig zu suchen haben. In »präfigurativen« Kulturen wiederum dreht sich das Generationsverhältnis um; nun lernen die Älteren von den Jüngeren.
Abb. 4: Mögliche Varianten der generativen Transmission
Welches Generationsmodell haben wir heute in den spätindustriellen Gesellschaften Europas und Amerikas? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Zunächst müssen wir Meads Modell um einige Varianten ergänzen: Radiale Kulturen zum Beispiel geben ihr Wissen durch »zentrale Verteiler« weiter – dieses Modell entspricht einer Massengesellschaft, in der die Medien den Ton angeben. In konzertierten oder Schulungskulturen kümmern sich viele Erwachsene intensiv um wenige Jüngere. Erziehung und Wissensvermittlung findet hier überwiegend in außerfamiliären Institutionen statt, zum Beispiel in Internaten, Eliteschulen, religiösen Zentren, in denen die Kinder einer ständigen intensiven Anweisung durch Ältere ausgesetzt sind. Islamschulen sind hier ein gutes Beispiel, aber auch Elemente der angelsächsischen Kultur, in der die Kinder ab etwa 10 Jahren an einen öffentlichen Intensiverziehungsraum namens Internat übergeben werden. Man denke an das gute alte gruselige Hogwarts von Harry Potter, wo jede Menge beeindruckender Autoritäten sogar noch um Mitternacht durch die Wände spuken …
Jede dieser Konfigurationen erzeugt andere Dynamiken gesellschaftlicher Evolution. Kulturen, in denen die elterliche Autorität unangreifbar ist, sind tendenziell variantenärmer und wandlungsschwächer. In Internatskulturen herrscht eine bunte Mischung aus Rebellion und Opportunismus. Massenmedienkulturen erzeugen schnelle Veränderungen, aber nicht immer Wandel (im Sinne eines emanzipativen und partizipativen Prozesses). Der antiautoritäre Aufbruch von »68« brachte der westlichen Welt den Übergang von einer postfigurativen in eine tendenziell konfigurative Kultur – heute orientieren sich die Kids ungleich mehr an den Peers als früher. Aber auch die Medien spielen heute eine gewaltige Rolle.
Bei zunehmender Alterung und einer Tendenz zum lebenslangen Lernen könnten wir in Zukunft auf eine Hybridform zusteuern: eine transfi gurative Kultur. Alle lernen von allen, die Erwachsenen von Erwachsenen, die gleichaltrigen Jugendlichen untereinander, aber auch die Generationen voneinander. Neuerdings tragen auch die Alten Jeans, und die 60-Jährigen fahren mit der Harley auf das Rockfestival in Wacken. Eine solche Multi-Generativ-Gesellschaft könnte eine neue Veränderungslogik hervorbringen, in der sozialer Wandel graduell und »selbstlernend« organisiert wird. Die starken, existentiellen Brüche und Enttäuschungen, die
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