Das Buch des Wandels
Kind in eine europäische Schule einschulen und in einem liebevollen, geduldigen Elternhaus aufwachsen lassen, hat es gute Chancen, einen Master of Business Administration zu machen und, sagen wir, Bankmanager zu werden (allerdings eher in London als in Frankfurt). Wenn wir einen erwachsenen Afrikaner nach Europa einladen und zehn Jahre einen Job geben, der seinen Fähigkeiten entspricht, wird er sich in Wertesystem, Sprachduktus, Sexualverhalten, Einkommen kaum von »uns« unterscheiden.
Beides sind keine ausgedachten Beispiele.
Das alles führt uns zu einer weiteren Frage: Was bedeutet eigentlich »langsam«? Wo werden unsere Tachometer für den Wandel geeicht? Verändern sich Kleinstädte, Stadtteile, Familien in Deutschland oder England oder Skandinavien »schnell«? Wie lange dauerte es in Europa, bis Menschen in Städten lernten, ihre Notdurft nicht auf der Straße zu verrichten? (Hunderte von Jahren.) Ticken Nordeuropäer, Amerikaner wirklich »radikal anders« als ihre Urgroßeltern?
Was geschähe, wenn man uns die vollen Supermärkte, die Kreditkarten, die Autos und Gehaltskonten vorübergehend entzöge? Wie »zivilisiert« würden wir uns dann verhalten? (Ein Hauch
von Ahnung eines solchen Zustands tauchte in der »Krise« am Horizont auf.)
Jede Gesellschaft ist immer eine Mischung aus Gewachsenem, Gewordenem und »Flüssigem«, Dynamischem. Das Verhältnis zwischen beiden Substanzen lässt sich nicht nach Belieben verändern – sonst würde die Gesellschaft aufhören zu existieren und sich einfach atomisieren. Es gibt eine Geschwindigkeitsbegrenzung sozialer Wandlungsprozesse. Die Innenstadt von Tokio mag »schnell« anmuten – aber wenn man sich sorgsam jedem Akteur auf diesem Spielfeld widmet, wird man Menschen mit alten und zähen Traditionen, Normen, Bindungen entdecken.
Unsere oberflächliche Wahrnehmung der Wandlungsgeschwindigkeit lässt sich also leicht täuschen. M’bekwale ist womöglich ein Beispiel für rasend schnellen Wandel, den wir einfach nicht als solchen wahrnehmen! Diese Gesellschaft befindet sich gerade in einem rapiden Umbruch. Verbindungen zur Außenwelt, Straßen haben, wie wir aus der Geschichte wissen, massive Auswirkungen auf die Sozialstrukturen. Ebenso verändern die Möglichkeiten der Fernkommunikation und der Information die Beziehungen. Im Jahre 1994 hatte nur etwa die Hälfte aller Menschen auf dem Planeten jemals in ihrem Leben ein Telefonat getätigt. Im Jahr 2008 gab es 3,3 Milliarden Handy-Verträge weltweit. Jeden Tag erwerben derzeit rund 25 000 Afrikaner ein Handy, das für Überweisungen, zum Preisvergleich, zur Koordination von Mikromärkten taugt. Die Eheschulung unter dem Mangobaum könnte das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in dieser Dorfkultur schneller verändern als alle Beziehungsratgeber, die sich in den Regalen europäischer und amerikanischer Buchhandlungen stapeln.
Diese Erkenntnis der Relativität der Wandlungsgeschwindigkeit kann uns dabei helfen, unser Wandlungsmodell kräftig zu überarbeiten. Wandel funktioniert eben nicht entlang einer Linie, in gradliniger Beschleunigung. »Fortschritt« wird nicht »immer schneller«, wie es in aufgeregten Talkshows unentwegt verkündet wird. In allen Kulturen, auch in den fortschrittlichen, existieren
enorme Bremskräfte, Beharrung, Traditionen. Die historischen »Hot Spots«, die Knotenpunkte, an denen sich die menschlichen Verhältnisse über Nacht zu ändern scheinen, sind das Resultat von Konvergenzen. Plötzlich kommen an einem Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Menge Faktoren zusammen. Lang gereifte Technologien treffen auf Sozialstrukturen, die unruhig oder instabil geworden sind. Dinge werden verfügbar, die zuvor allgemeiner Knappheit unterlagen. Schauen wir uns eine solche »heiße Stelle« des Wandels einmal aus der Nähe an.
Von Haaren, Hüften und Paaren
Betrachten Sie diese Bilder genau. Sie zeigen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in chronologischer Reihenfolge in den Jahren 1962, 1972, 1974 und 1980. Was fällt Ihnen auf?
Zu Beginn, 1962, sehen wir eine klassische Arbeitermannschaft. Gesichter von ernsten Ackerern und Rackerern; obwohl aus dieser Mannschaft kaum jemand älter ist als 28, sehen alle viel älter aus. Das letzte Bild, das von 1980, ähnelt dem ersten verblüffend – eine
Profimannschaft, nur die Haartracht hat sich ein wenig modifiziert. Man erkennt auf beiden Abbildungen den Willen zum Erfolg, das harte Training – und das Geld. Den Ernst des
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