Das Buch des Wandels
Verletzungen und Unterwerfungen, die in früheren Zeiten das Verhältnis zwischen den Generationen prägten, könnten dann der Vergangenheit angehören. Alles nur Utopie? Oder bereits ein Teil der Wirklichkeit?
Wehen des Wandels
Vor einem halben Jahrhundert schrieb der große Ökonom John Maynard Keynes folgende Elegie über die Langsamkeit des Fortschritts:
»Seit den frühesten Zeiten … bis etwa zum Beginn des 19. Jahrhunderts gab es im Lebensstandard des Durchschnittsmenschen in den zivilisierten Zentren der Erde keine wirklich bedeutende Änderung. Höhen und Tiefen, immer wieder Seuchen, Hungersnöte und Kriege, goldene Zwischenzeiten, doch keinen tiefgreifenden fortschrittlichen Wandel … Das Ausbleiben wichtiger technischer Erfindungen zwischen dem prähistorischen Zeitalter und der vergleichsweise neuen Zeit ist wirklich erstaunlich … Fast alles, was noch zu Beginn der Neuzeit eine Rolle spielt, war bereits dem Menschen der Vorzeit bekannt: die Sprache, das Feuer, dieselben Haustiere, Weizen, Hafer, Wein, Oliven, Mauerziegel und Kochkessel, Kupfer, Zinn, Blei und Eisen, Bankwesen, Staatskunst, Mathematik, Astronomie …« 3
Der Fortschritt ist eine Schnecke. Aber bisweilen, das hätte auch Keynes nicht bestritten (und das haben wir oben gesehen), verwandelt er sich in eine Rennschnecke. Die Geschichte bietet dafür einige interessante Beispiele.
Vor gut 100 Jahren, im europäischen Fin de siècle« um 1900, bildete Wien das geistige und kulturelle Kraftwerk Europas, ein brodelndes New York des alten Kontinents. Innerhalb eines einzigen Jahrzehnts, von 1875 bis 1900, stieg die Bevölkerung von 800 000 auf rund 2 Millionen an. Die Landflucht des beginnenden Industriezeitalters spülte Menschenmassen in die imperiale Stadt der Habsburger. Aber gerade hier, in diesem sozialen Dampfkessel, entfaltete sich enorme Kreativität. Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg erfanden die Musik neu, deren klassische Tradition mit Beethoven und Mozart ein Jahrhundert vorher die Blütephase der »Kulturmonarchie« begründet hatte. Autoren wie Karl Kraus, Robert Musil, Arthur Schnitzler oder Stefan Zweig entwickelten eine neue, human-existentialistische Literatur, in deren Zentrum die existentiellen Empfindungen des Individuums standen. Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka waren wichtige Protagonisten der modernen Malerei. Otto Wagner und Adolf Loos entwickelten eine »Architektur des Lichts«, mit der sie Natur und Funktion versöhnen wollten. Auch in der Wissenschaft waren die »Wiener Modernisten« Weltspitze. Sigmund Freud und Alfred Adler begründeten die Psychoanalyse. Medizinische Pioniere wie Ignaz Semmelweis trieben die Hygienelehre voran. Wittgenstein in der Philosophie, Friedrich August von Hayek in der Ökonomie – kaum ein Erkenntnisfeld der Moderne wurde nicht von »Wiener Einsichten« geprägt. Joseph Schumpeter veröffentlichte 1911 die Grundlagen seiner Theorie der »Kreativen Zerstörung«, der zyklischen Innovation – ein Meilenstein auf dem Weg zum Verständnis des sozioökonomischen Wandels.
Wie im Inneren alternder Sterne Diamanten entstehen, so setzt hoher sozialer Druck oftmals Wandelenergien frei. Aber können sie sich auch durchsetzen? Um 1900 regierte der greise
und überforderte Kaiser Franz Joseph bereits ein halbes Jahrhundert im Riesenreich der Donaumonarchie. In dieser stagnativen Umwelt hatten die hellen Köpfe keine wirklichen politischen Chancen. So blieb ihnen eine Kultur der »renitenten Innerlichkeit«, deren Schlüsselworte Hugo von Hofmansthal 1893 so summierte: »Décadence, Synästhesie, Dilettantismus, Neurotiker, Symbolismus, Renaissance, Impressionismus, … Verklärung des Irrationalen, des Artifiziellen, Ästhetizismus, der Hang zu Krankheit und Zerfall, Traum und Tod als Faszinosum …« 4
So faszinierend die Erfindungen und Entdeckungen der Wiener Geistesrevolte gewesen sein mögen – das historische Beispiel zeigt auch, dass eine Blüte in einem einzigen Sektor (dem Kultursektor) nicht ausreicht, um echten gesellschaftlichen Wandel zu bewerkstelligen. Die österreichische Gesellschaft blieb starr, reaktionär, unbeweglich. Und so beendete der Erste Weltkrieg die magische Zeit, schickte viele Intellektuelle in den Krieg, die Verzweiflung – und bald darauf ihre begnadetsten Köpfe in die Emigration. Das Wien der Jahrhundertwende konnte seine dynamischen Energien nicht erlösen; hier misslang die Synchronisation aus Ökonomie, Politik und
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