Das Buch des Wandels
industriellen Zentren in Schottland, Mittelengland und Wales mit der Metropole London. Sieben Prozent des gesamten Kapitals der englischen Wirtschaft flossen in den Schienenbau. Das war vermutlich der Hauptgrund dafür, dass England nie in die Revolutionswirren von 1848 geriet. Die Schienenwege machten Englands Industrie leistungsfähiger und führten zum Aufschwung um 1900. Das Platzen der Blase demokratisierte obendrein die
Technologie: Die Eisenbahnen konnten nach dem Crash auch von den Armen genutzt werden, weil die Fahrscheinpreise ins Bodenlose fielen.
Der Zusammenbruch des »Neuen Marktes« im Jahr 2001 hinterließ uns jenen Glasfaser-Daten-Highway, der eine Zeitlang nutzlos und völlig überdimensioniert schien. Doch genau auf dieser nun plötzlich billig gewordenen Infrastruktur bauten die Telekomfirmen den Internet-Handy-Boom auf. Das Internet 2.0, der Erfolg von iTunes und Myspace und YouTube, konnte nur durch gigantische Datentransfervolumen entstehen.
Die »Südseeblase« von 1720, in der mit Optionen auf Handelsgüter der frühen Globalisierung spekuliert wurde, hinterließ haufenweise Pleitiers und wertlose Papiere. Aber die Schifffahrtsrouten nach Asien waren nun etabliert, und wenige Jahre später waren die Handelsaktivitäten hoch wie nie.
Man kann die Finanzblasen als Beweis für das Nichtfunktionieren der kapitalistischen Wirtschaft begreifen. Aber wenn wir Ökonomie als lebendiges, adaptives, evolutionäres System verstehen, das auf vielfältige Weise mit der Gesellschaft kommuniziert, müssen wir genau andersherum denken: Krisen sind Störungen von Systemen, die sich durch diese Störungen neu erfinden. Wirtschaft braucht Krisen, wenn sie innovativ bleiben will. Sie bahnen auch neuen politischen Ordnungen den Weg, denn Wirtschaft und Politik sind symbiotische Systeme.
Die Französische Revolution war das Resultat einer feudalen Spekulation mit Brotpreisen, gegen die die Armen und die neu entstehende Bourgeoisie gemeinsam rebellierten. Als die »Gründerblase« um 1873 platzte – es war gleichzeitig das Ende der Eisenbahnspekulation -, führte dies zu einem Erstarken der Sozialdemokratie. Als Antwort verordnete der Reichskanzler Deutschlands, Bismarck, den Sozialstaat in Form der Renten- und Krankenversicherung, deren Umlageprinzip sich in der Folge in fast allen Industrienationen durchsetzte. »Die Heilung der sozialen Schäden«, so hieß es in einem Erlass Kaiser Wilhelms I., »ist nicht
ausschließlich im Wege der Repressionen, sondern gleichmäßig auf dem Weg der positiven Förderung des Wohls der Arbeiter zu suchen.« Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 mündete in einem Teil der Welt in den schrecklichsten Krieg aller Zeiten. In den USA jedoch legte der New Deal die Grundlagen einer neuen Gesellschaftsordnung, in der der Staat marktregelnde Funktionen übernahm, ohne die wirtschaftliche Dynamik zu sabotieren. Dieses Modell, in der Nachkriegsordnung im Weltmaßstab angewandt, führte zur größten Wohlstandsverbreitung aller Zeiten. Die 2009er-Krise beendet eine Phase unilateraler Globalisierung, in der rüde amerikanische Managementmethoden und primitive Kapitalmarktgesetze die Weltmärkte regierten.
Schumpeter sprach nicht nur von der »kreativen Zerstörung«, sondern auch von »neuen Kombinationen und Verbindungen«, mit denen Unternehmer die Welt voranbringen. In Krisen, die keineswegs, wie es uns die antikapitalistischen Vereinfacher weismachen wollen, immer kriegerischen Charakter annehmen müssen, werden jede Menge Karten neu gemischt. Nischenspieler wachsen rapide, schwache, opportunistische Wertschöpfungen segnen das Zeitliche. Aus den Raupen der alten Ökonomie werden die Schmetterlinge neuer Perspektiven.
Krise als Heilung
Das Wort »Krise« hat seinen Wortstamm im griechischen krinein, was so viel bedeutet wie scheiden, entscheiden. Krisen sind Störungen, die dann entstehen, wenn bestimmte Steuerungs- und Selbstorganisationen nicht mehr funktionieren. Weil sich die Umfelder geändert haben. Weil die Akteure sich selbst weiterentwickelt haben, so dass sie nun nicht mehr mit ihrer – stehengebliebenen – Umwelt zusammenpassen. Das ganze System wird krank. Das gilt gerade und besonders für das individuelle Leben.
Auf jede Krise gibt es immer zwei mögliche Antworten: Die eine ist die Regression, der Rückzug auf eine vorherige Stufe, in der die Komplexität geringer und der Umweltdruck reduzierter war. Doch diese Möglichkeit existiert fast nur in mechanistischen
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