Das Buch des Wandels
Systemen. In der realen Evolution – von Menschen, Ökonomien, Organismen – gilt meistens die Alternative: Weiter oder Tod!
Alle lebendigen Systeme sind in gewisser Weise »die Resultate ihrer Krisen«. Die Artenvielfalt auf diesem Planeten ist das Produkt unendlicher Aussterbeprozesse. Die »kambrische Explosion«, in der vor 600 Millionen Jahren innerhalb kurzer Zeit Hunderttausende neuer Spezies entstanden, markierte den Beginn der enormen Artenvielfalt auf der Erde. Seitdem sind 99 Prozent der damaligen Arten wieder ausgestorben, und dennoch hat sich die Artenvarianz weiter erhöht. In einem gigantischen Prozess von Auslese und Adaption – von ständiger Krise – überlebten die Organismen, die zu ihrer Zeit in ihrem Umfeld am besten angepasst waren. Der »Organismus Mensch« mit seinem übergroßen Gehirn ist das Resultat einer »Krise der Hirne«, die sich in vielen Umweltsituationen als zu klein, zu unflexibel, zu reflexhaft erwiesen.
Krise bedeutet einen besonderen Energieaufwand, in dem die Variabilität des Organismus erhöht wird. In größeren Krisen müssen wir uns »verpuppen«, um uns von allzu vielen Außenreizen abzuschirmen. Trauer, Pubertät, Depression, Midlife-Crisis, Alterskrankheit markieren solche Phasen. Aber auch positive Transitkrisen wie das Kinderkriegen, das Heiraten, auch Umzüge und Berufswechsel sind Herausforderungen. Die Dinge ordnen sich neu – und das schmerzt. Menschen versuchen, diesen Schmerz zu vermeiden. Aber gerade deshalb gilt: Menschen, die keine Krisen durchlebt und entschieden haben, wirken flach und »unwirklich«.
Die psychologische Choreographie einer Krise verläuft immer in drei aufeinander aufbauenden Phasen:
1. Erlaubnis – Zunächst müssen wir uns irgendwann Ohnmacht eingestehen. Es geht so nicht weiter. Wir kommen nicht voran. Das ist schwierig, denn wir werden von Erwartungssystemen gesteuert – und die meisten Erwartungen basieren auf Kompensationen vergangener Verletzungen, die wir mit dem Eingeständnisprozess aktualisieren. Wenn diese Erwartungen neurotisch überhöht sind, segeln wir auch dann noch stolz und größenwahnsinnig weiter, wenn die Wellen schon über uns zusammenschlagen (man denke an die Manager in der Finanzkrise). Die meisten Menschen (Gesellschaften) sehen ein Ding nicht wie es ist, sondern nur, wie es sein sollte . Mit allen Mitteln wird das Bedrohliche, Neue, Zumutende unterdrückt. Bis es zu spät ist. Dann wird aus der Wandlungskrise ein Niedergang.
2. Rekonstruktion – Im Rückblick müssen wir dann analysieren, was nicht funktioniert hat und wo die Gründe liegen. Wir müssen das System, das aus dem Takt geraten ist, kognitiv durchdringen. Wenn wir die krisenhaften Geschehnisse wieder und wieder Revue passieren lassen und dabei langsam zu einem neuen, distanzierten Blickwinkel finden, erreichen wir jene geistige Freiheit des Lernens und Verstehens, in der wir die Dinge neu bewerten können (das ist, nebenbei bemerkt, die Grundlage jedes psychoanalytischen Prozesses).
3. Perspektive – Irgendwann ist die alte Matrix im Kopf überwunden. Jetzt geht es darum, eine neue Vision zu entwickeln. Noch müssen wir nicht jeden Schritt des neuen Weges genau kennen (der Weg entsteht beim Gehen). Wir sollten jedoch unseren Bewegungsmodus, unsere Schrittfolge verändert haben, wenn wir uns auf den Weg machen.
Persönliche Krisen erzeugen ihre Wirkung durch alle diese Stufen hindurch, und manchmal kann man auch eine von ihnen zügig überspringen. Die Frage ist nur, wie tief man in die Störung absinken muss, bis die Verpuppung einsetzt.
Die Chance der Katharsis
Michel Vaujour könnte mühelos in den Sechzigerjahre-Gangsterfilmen mitspielen, in der großen Zeit von Belmondo und Delon. Allerdings fand sein Gangsterleben in der Realität statt. Heute ist er in den Fünfzigern und im Hauptberuf Drehbuchautor. Und er berät die Polizei. Als Exverbrecher aus berufenem Mund.
Vaujour hat 27 Jahre Gefängnis hinter sich, davon 17 Jahre Einzelhaft. Seine fünf Ausbruchsversuche gingen durch die Presse; klassische Räuberpistolen im Houdini-Stil. Einmal benutzte er eine aus Seife geschnitzte Pistole. Ein anderes Mal Apfelsinen, die er schwarz anmalte und als Bomben deklarierte. 1974 fabrizierte er den Abdruck des Zellenschlüssels in einem Käsestück. Schließlich hievte seine Frau ihn mit einem Hubschrauber vom Dach des Pariser Hochsicherheitsgefängnisses La Santé – seine spektakulärste und letzte Ausbruchsaktion.
Vaujour war in
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