Das Buch des Wandels
den späten sechziger Jahren ein Streetkid, wie es in den Städten auch damals schon viele gab. Aus einem kleinbürgerlichen Haushalt in Nordfrankreich stammend, plagte ihn die Langeweile. Er klaute Autos, auch um Aufmerksamkeit zu schinden. Als verhaltensauffälliges »wildes Kind« hatten ihn die Eltern früh zu einer Tante verschoben. Autoklau war seine Methode, mit der Welt und ihrer Fremdheit umzugehen.
Seine erste Verhaftung wegen Autodiebstahls wurde gleich verlängert, als er direkt nach der Entlassung beim Fahren ohne Führerschein erwischt wurde. Knastbrüder lehrten ihn die Kunst des Einbruchs, des Überfalls und der schnellen Flucht. Mit 24 kassierte Vaujour 25 Jahre Haft. Es folgten neue Ausbrüche, neue spektakuläre Banküberfälle. Der Bruch kam zu Beginn der neunziger Jahre. Bei einem Banküberfall traf eine Polizistenkugel Vaujours Kopf. Er nennt das heute »meinen schönsten Ausbruch«.
Vaujour ist danach halbseitig gelähmt und sprachunfähig. Doch er tritt eine nächste, eine entscheidende Reise an: Eine Reise nach innen. Mühsam lernt er, sich zu bewegen, zu sprechen, zu gehen.
»Nach meiner Verletzung war es die Entdeckung der inneren Freiheit, die es mir erlaubt hat, mich aus meinem eigenen Gefängnis zu befreien … Dieses Mal ging es um die Befreiung von mir selbst, und von der inneren Härte, die ich aufbauen musste, um die vielen Jahre zwischen Gefängnis und Flucht zu überstehen. Ich habe mir nur gedacht: Wir sind am Leben, und das ist doch schon ein Geschenk! Wenn man das erst im Augenblick des Todes merkt, ist das ein bisschen spät, oder?« 6
Vaujours Geschichte ist ein Beispiel für jenen Prozess der kathartischen Selbstfindung, der in unzähligen Romanen, Filmen, Epen und Gesängen beschrieben wird. Krise funktioniert hier als ein totaler »Neustart« der Persönlichkeit. Es gibt kaum ein modernes Kulturprodukt, das nicht auf einer solchen Katharsiserzählung aufbaut, sei es der beliebte Psychokriminalroman, die Blut-Schweiß-Kotze-Zuckungen auf der Theaterbühne oder das Besessensein von der Idee der apokalyptisch-strafenden (Natur-)Katastrophe.
In all diesen Untergängen und Zusammenbrüchen der Ordnung vergewissern wir uns unbewusst dessen, was unsere Welt am Ende doch recht verlässlich zusammenhält. Solange diese Erzählungen sichtbar in der virtuellen Welt stattfinden, ist nichts gegen sie einzuwenden. Nur wenn sie nach dem Maya-Prinzip beginnen, ernsthaft auf unsere Wirklichkeitsdeutung überzugreifen, wird es gefährlich.
Vom Segen der Depression
Kaum eine Krankheit wird in unserem Kulturkreis so gefürchtet und dämonisiert wie die Depression. Von der neuen »Volkskrankheit« ist die Rede, der schrecklichen »Zivilisationsgeißel« der Neuzeit. Depression wird in vielen Diskursen als eine Art gerechter Strafe für die Sünden der modernen Zivilisation interpretiert:
»Immer mehr Stress, immer mehr Unsicherheit, immer mehr kapitalistische Leistungsanforderungen!« Depression steht für die finale Krise des Kapitalismus auf der subjektiven Ebene.
Bei Licht betrachtet ist diese Ableitung Unsinn. Die Stressfaktoren waren in archaischen Zeiten um ein Vielfaches höher, und zwar keineswegs nur im Reich der paranoiden Maya. Mittelalterliche Bauern, antike Sklaven, Proletarier in der Fabrik des frühen 19. Jahrhundert und selbst Bürgersöhne in jener Zeit hatten ungleich mehr existentielle Zwänge, Risiken und Bedrohungen zu verarbeiten als ein heutiger Sozialhilfeempfänger. Aber natürlich ist »Stress« immer eine kulturelle Konstruktion. Was wir als »stresshaft« definieren, unterliegt verschiedenen Reizschwellen und Wahrnehmungspegeln. In einer sicheren Umwelt werden Bedrohungen von unserer Wahrnehmung anders selektiert – einerseits, indem nun auch kleine Risiken hoch bewertet werden (der sogenannte Fahrstuhleffekt: Bei steigendem Wohlstand steigt die Gefahrenwahrnehmung), anderseits durch die Virtualisierung und das »Storytelling«: Das mediale Sensationssystem erzeugt ständig neue Bedrohungsmythen.
Aus der Sicht der Kognitionspsychologie und der Neurobiologie ergeben sich in Beziehung auf die Depression auch noch andere Anhaltspunkte. Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass die chronische und vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen einem neurologischen Zweck dient: Auf diese Weise versucht das Hirn, »falsch erlernte« Strukturen in den Synapsen wieder aufzulösen, was es uns erlaubt, neue Wege zu gehen.
Jerome Wakefield hat in seinem Buch »The
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