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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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zu 40 anderen Spielern unternimmt) das große Monster in den letzten Zuckungen liegt …
    World of Warcraft, kurz WOW, ist das größte virtuelle Simulationsspiel der Welt – und Anlass für einen der hartnäckigsten Kulturkriege, in dem von allen Seiten mit harten Bandagen gekämpft
wird. Weit über zehn Millionen Menschen in 50 Ländern spielen es fast täglich, Kinder wie Erwachsene, Männer wie Frauen (der älteste Spieler, den ich persönlich kenne, ist 84 Jahre alt). Manches, was über das Spiel als Gerücht kursiert, ist purer Unsinn, etwa dass es zu Gewalt, Kriminalität oder asozialem Verhalten anhält (im Vergleich zu jedem beliebigen Fernsehkrimi ist die Gewalt eher symbolisch, in gewisser Weise abstrakt-mathematisch). Aber einiges ist sogar wahrer als wahr: Wer anfängt, sich in dieses Alternativuniversum zu begeben, ist in gewisser Weise verloren. Das Sozialleben verändert sich. Familien geraten in die Krise. Beziehungen zerbröseln (ich selbst konnte das nur vermeiden, weil ich mit meiner Familie spielte; zumindest mit meinen beiden Söhnen).
    Um zu verstehen, wie WOW Menschen regelrecht in sich hineinsaugt, reicht es allerdings nicht, die üblichen Klischees der »Computersucht« zu bemühen. Das Spiel macht weder einsam, im Gegenteil, noch unsozial, weder dumm noch faul. Das Spiel ist vielmehr so etwas wie die Essenz menschlichen Lebens und Wandels. Es hat das Zeug, die Wirklichkeit komplett zu substituieren. Und gerade deshalb lehrt es eine Menge über das, was Wirklichkeit eigentlich ist.
    Zunächst spricht WOW so gut wie alle Meme der Kulturgeschichte an. Alle archaischen Bilder und Mythen, die sich im Lauf der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben. Es ist ein dreidimensionales Märchenbuch, in das man hineingehen kann. Es gibt fantastische Landschaften – bedrohliche, idyllische, üppige, karge. Bizarre Burgen und riesige Städte. Orks, Zwerge, Untote, Engel, Feen, Mammuts, Drachen – die ganze Palette der Sagengestalten, die man in religiösen Werken, in Opern, Epen, Sagenbüchern findet. Alle Kulturen der Erde, von den Jägern und Sammlern über die Maya bis zu den mittelalterlichen Heldenlegenden werden zitiert, variiert. Dazu heroische Musik, die irgendwo zwischen Wagner, Gershwin und Sibelius angesiedelt ist. Übrigens gespielt von einem echten Symphonieorchester.

    WOW ist ein genuin soziales Spiel, in dem Kooperation die zentrale Rolle spielt. Angewandte Spieltheorie: Millionen von Spielern müssen mit ihren Avataren Aufgaben lösen, die sie allein nicht bewältigen können. Dabei nutzen sie eine Vielzahl von kommunikativen Symbolen und einen virtuellen Dialekt, den außerhalb des Spiels niemand versteht. Prinzipiell ist man frei, seinen Gefühlen und Prägungen zu folgen: Man kann »cheaten«, also betrügen. Oder kooperieren. Man kann unhöflich, kühl, raffgierig, warmherzig handeln. Das WOW-Universum bildet eine Kultur der sozialen (Selbst-)Reflexion.
    Das Suchtprogramm des Spiels funktioniert direkt über die Coping - Funktion: Es geht um alle Dimensionen des Beutemachens, des Überwindens von Gefahr, des Meisterns von Rätselaufgaben. Den finstersten »dungeon«, ein riesiges Verlies voller tödlicher Gefahren, mit 24 Mitspielern zu überleben und dabei reichlich Gold, Waffen und Ornat einzusacken, schüttet gewaltige Mengen der in den letzten Kapiteln beschriebenen Neurosubstanzen aus. WOW-Spieler sind Dopamin-Junkies. Dieselben endokrinen Zustände, denen wir bei Sex, Arbeit, Liebe, Kunst begegnen, sind in dieser Welt in Hülle und Fülle und fast ohne Nebenwirkungen zu haben. Wer den Großdrachen besiegt, ist garantiert im Endorphin-Dopamin-High.
    Noch Fragen?
    Die zentrale Ankerung findet jedoch in der Figur des Avatars, des Stellvertreters, statt, den wir im jahrelangen Verlauf des Spieles zu einem eigenständigen Charakter ausformen. Nicht umsonst heißen Spiele wie WOW »Massive Online Role Playing Game«: Es sind Rollenspiele, in denen wir unsere Persönlichkeit in einer Rolle verdoppeln und gleichzeitig spiegeln. Man kann einen gehässigen oder gemeinen Charakter entwickeln, einen weisen oder magischen, einen starken oder raffinierten – alle Abstufungen menschlicher Charaktere stehen zur Verfügung. Man kann Gnom oder Troll sein, Schurke oder Blutritter, Untoter oder Schamane, heilig oder dunkel. Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?
    Wir spielen uns selbst. Wir werden, wer wir sind.

    In der Maya-Kultur verfügte jeder Krieger, jeder Adlige, verfügten selbst

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