Das Buch des Wandels
Mitglieder der niedrigen Schichten über einen »ulay«, ein symbolisches Tier, das ihn das ganze Leben begleitete und eine Variante seines Charakters darstellte. Robbie Cooper, ein New Yorker Videokünstler und Fotograf, hat im Jahr 2007 Rollenspiel-Spieler und ihre Avatare fotografiert. Ein mehrfach behindertes Kind. Eine allein erziehende Mutter. Einen übergewichtigen Jungen. Selbst wenn man die Biographiedetails der Spieler nicht kennt, wird die produktive Spannung zwischen erster und sekundärer Identität deutlich. Der Avatar funktioniert wie ein Coach: Er zwingt uns zu einer Abwägung: Kompensation oder Verstärkung. Wollen wir unsere eigenen Prägungen und Charaktereigenschaften eher verstärken? Oder wollen wir versuchen, im virtuellen Raum ein ganz anderer zu sein?
Das Freischaltprinzip
Du musst dein Leben ändern! Dieser Schlachtruf klingt wie eine Drohung und ist doch gleichzeitig die Offenbarung der Moderne. Peter Sloterdijks gleichnamiges Buch aus dem Jahr 2009 verhandelt den historischen Sinn dieses Slogans: Menschen haben zu allen Zeiten Techniken des asketischen Übens praktiziert, um der Banalität und dem Schrecken des Lebens zu entkommen. Sie haben Räume konstruiert (Tempel, Ashrams, Enklaven), in denen die Regeln verändert und Zeit und Raum kontrolliert werden konnten.
Auch früher mussten sich Menschen ändern, wenn die Umwelt es erforderte und die Mitmenschen es erzwangen. Aber heute ist Selbstveränderung das zentrale Versprechen, aus dem unsere Hoffnungen, unsere Wünsche und Lebenserwartungen zusammengesetzt sind. Hinter der Sehnsucht nach Selbstentwicklung steht ein tiefer evolutionärer Impuls: Das Leben kann nicht »einfach nur gelebt werden«. Es braucht einen höheren Sinn, eine Vorwärtsdimension. Aus dieser vertikalen und horizontalen Spannung entstehen Religion und Philosophie, wächst die Idee der Kunst, die Sehnsucht nach Überwindung der Grenzen. Im Schnittpunkt dieser Achsen entsteht die Utopie der Selbstentwicklung: Wir sind Primaten, aber wir wollen »Primus« werden – einmalig und unverwechselbar. Nur: Wie stellen wir das an?
Abb. 10: Reale Menschen und ihre Avatare aus dem Buch von Robbie Cooper, Julian Dibbel und Tracy Spaight: »Alter Ego: Avatars and Their Creators«. London 2007
Eines der zentralen Instrumente zur Einübung der Selbstwerdung sind die Medien. In einer Individualkultur bilden sie so etwas wie ein gigantisches Kaleidoskop, in dessen Tausenden Facetten wir unsere Persönlichkeit spiegeln können.
Seit Anbeginn haben Menschen ihre Identität in Geschichten gesucht. Die ersten »Selbsterfahrungsgruppen« fanden sich beim Storytelling unserer Ur-Vorfahren am Lagerfeuer zusammen (Humor, Spott, Auslachen inklusive). Im 18. Jahrhundert führte das Lesen von »skandalösen Romanen« zu einer Individualisierungswelle. Im Schreiben und Lesen wurden Normen und Sittlichkeit der Zeit infrage gestellt. Die elektronischen Medien multiplizieren nun diesen Effekt und tragen ihn in den hintersten Winkel der Erde. Sie bieten Petabytes von Storys, Geschichten, Dramen, Inszenierungen, in denen wir uns vergleichen können. Sind wir so wie die? Können wir so sein? Wollen wir so sein?
Selbstreflexion benötigt nicht, wie viele meinen, höhere Bildung und vornehme Ästhetik. Die viel geschmähten Trivialserien, die »Soaps«, haben großen Einfluss auf die Wertesysteme und ihren Wandel. Untersuchungen zeigen, dass die Telenovelas in Argentinien und die Bollywood-Dramen in Indien bei einem Millionenpublikum regelrechte Emanzipationsschübe auslösen, auch und gerade in den sozial schwachen Schichten: Durch die Dramatisierung von Rollenbildern zwischen Mann und Frau entstehen »Orientierungsleistungen«, die ganze Normensysteme ins Wanken gebracht haben. So sank in Gegenden Südamerikas mit hoher Sehbeteiligungen die Geburtenrate rapide, die Scheidungsraten erhöhten sich. 1
Die interaktiven Massen-Rollenspiele treiben die Möglichkeiten des Medienspiegels nun auf die Spitze. Sie verwandeln den
Spieler in einen agierenden Helden, der in einem synthetischen Raum (fast) nach Belieben probehandeln kann – als könnte man jede Seite eines Romans mitschreiben und mitbestimmen. Die Spielsyntax von World of Warcraft besteht in einem geführten und garantierten Wandlungs- und Entwicklungsprozess. Das Ich, vertreten durch seinen Avatar, bewegt sich auf einer steilen Kurve des Kompetenzgewinns. Durch jedes Abenteuer, jedes gelöste Rätsel erreicht der Spieler die nächste
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