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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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Stufe der Kompetenzen, auf dem neue Fähigkeiten »freigeschaltet« werden. Das Prinzip heißt »level up«. Nun kann man plötzlich über Wasser gehen. Oder fliegen. Oder Blitze schleudern.
    Anders als im richtigen Leben wissen wir Spieler im WOW-Universum immer, an welchem Punkt des Aufstiegs wir stehen. Das Rückkoppelungssystem funktioniert so, wie wir es uns im Alltag alle wünschen würden: prompt, verlässlich, ohne Fehlinterpretationen. Die Werte meines berühmten Heilpriesters Planetarius am 5. April des Jahres 2009 betrugen: Ausdauer 819, Intelligenz 848, Willenskraft 488, Rüstung 4419, Schadens- und Heilbonus 1956, Trefferwertung 82, Tempowertung 350, Regeneration 650.
    Diese Zahlen repräsentieren nicht nur bestimmte Skills, Fähigkeiten, sondern eine spielinterne Hierarchie, ein Ranking. Ich kann mich auf diesem Wege mit Hunderttausenden anderer Spieler vergleichen. Ich weiß, wo ich stehe. Wunderbar! Wie oft würden wir uns im richtigen Leben wünschen, genau zu wissen, welchen Status wir in unserer sozialen Bezugsgruppe erreicht haben! Und welche »Quests« wir lösen müssen, um endlich weiterzukommen! Etwa »zehn Monster zu töten« oder »20 Kräuter sammeln« oder »den bösen Baraboig in der Klingenschlucht töten, mit 9 Freunden«.
    Wir können gar nicht anders, als uns ständig selbst zu überwachen – 40 Prozent unseres Frontalhirns, so schätzt der Hirnforscher Ernst Pöppel, sind zur Selbstüberwachung abgestellt. Statusund Handlungsunsicherheit repräsentieren deshalb die häufigsten Nöte der Welt – und im WOW-Universum können sie auf perfekte Weise gelöst werden. So wie die technische Zivilisation erst durch
die Erfindung der Messung entstehen konnte, entscheidet die Informationsrückkoppelung über die Fähigkeit, gezielt und strategisch zu handeln. Das war wahrscheinlich auch einer der Gründe für die Zahlenbesessenheit der Maya, die mit einem regelrechten Kalenderfanatismus und hochkomplizierten Symbolsystemen die Zukunft in allen Details auszurechnen versuchten – für jedes einzelne Individuum, für die Sippe, für die Welt. Alle möglichen magischen Systeme, einschließlich der Homöopathie, der Astrologie, selbst der modernen Medizin, arbeiten mit numerischen Rückkoppelungen, die allerdings oft viel zu undifferenziert und träge sind. In den Schulen existiert ein Notensystem – aber messen die Noten noch das »Richtige«? Weil wir keine Messalternativen haben, verwechseln wir unseren »Stand« mit unserem Gehalt, der PS-Zahl unseres Autos, unserem Vermögen – und stellen immer wieder fest, dass wir uns im Kriterium vertan haben!
    Welche Konsequenzen solche Übungssysteme der »sofortigen Rückmeldung« für die Zukunftsgesellschaft haben, lässt sich nur erahnen. Die Online-Spiel-Generation wird, wenn sie ins Erwachsenenalter eintritt, das Prinzip des »ehrlichen Benchmarking« auch in der Realität erwarten. Bewusst oder unbewusst wird sie von Arbeitgebern, Geliebten, Partnern fordern: Sag mir, wo ich stehe! Wie ist mein Score? Habe ich meine Ziele erreicht? Gib mir einen anständigen Quest! WOW ist nichts anderes als das Trainingslager einer neuen Feedback-Kultur, in der wir unaufhörlich ranken, skillen und taktisch operieren. Mit dem Ziel der nächsten Stufe!
    Sie halten das alles für viel zu weit hergeholt? Große Firmen wie IBM nutzen heute schon das World-of-Warcraft-Universum im Rahmen von Rekrutierungsverfahren. Das Spiel bietet eine wunderbare Messmethode für eine ansonsten schwer beurteilbare Fähigkeit: Führungskompetenz. Wer in WOW Gildenmeister ist und viele Spieler in großen Kampagnen koordinieren, führen und trotz endloser Fehlversuche und Niederlagen motivieren kann, zeigt seine Qualifikation für höhere Aufgaben. 2 Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein First-Class-WOW-Spieler Manager eines
großen Konzerns wird. Entweder der Boss (das Monster) fällt, oder er fällt nicht, und ein guter Raidleader ist das A und O – wie wir im Raid zu sagen pflegen!

Die hedonistische Tretmühle
    Am 1. Juli des Jahres 2009 galt Ben Southall der glücklichste Mensch der Welt. Weltweit porträtierten die Zeitungen den 34-jährigen Briten, der gegen 34 000 Mitbewerber den »Traumjob der Welt« gewonnen hatte. Als eine Art oberster Bade- und Hausmeister durfte er von nun an auf einer der landschaftlich schönsten Inseln der Welt, der tropischen Hamilton Island vor der Ostküste Australiens, leben. »Arbeit« bedeutete in diesem Job Tauchen, Inspektionsspaziergänge

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