Das Buch des Wandels
Unterschieden finden sich vor allem physische Talente wie die Weitwurfweite.
Welche Theorien wir aus dem weiten Angebot an Welterklärungen als »wahr« auswählen und dann auf dem Weg einer Mem-Epidemie kollektiv vervielfältigen, hat, wie wir wissen, ja auch etwas mit unserem Bedürfnis nach Entlastung zu tun.
Wie wäre es also mit der Antwort: Sowohl als auch? Warum können wir kein dynamisches Modell entwickeln, das sowohl den
kleinen Unterschieden als auch den Gleichheiten gerecht wird? Männer können »weibliche« Aspekte entwickeln und ausprägen, Frauen »männliche«. Was wir unter »männlich« und »weiblich« verstehen, unterliegt gleichzeitig wiederum selbst kulturellen Bewertungssystemen. Sogenannte »männliche« Aspekte – Durchsetzungsvermögen, Autorität, Dominanz, Entschlossenheit – können in manchen Situationen hilfreich und sinnvoll sein. Aber diese Eigenschaften können auch Frauen zugehören. In anderen Kontexten sind »weibliche« Aspekte – Ausgleich, Loyalität, Konfliktmoderation – äußerst angebracht. Robust im Sinne von zukunftsfähig wird eine Entwicklung vor allem dann sein, wenn beide Aspekte zum Zug kommen können.
Evolution ist nach unserem heutigen Kenntnisstand nicht zielgerichtet, führt aber dennoch in bestimmte Richtungen, sie lebt gleichermaßen von Adaption, Selektion und Varianz, sie schafft über sehr einfache Prozesse aus dem Partikularen das Verbundene, aus dem Simplen das Komplexe.
Ebenso funktioniert die Welt. Im Großen und Ganzen, aber auch im Detail.
Das genetische Missverständnis
Als am 26. Juni des Jahres 2000 der US-Präsident Bill Clinton mit den Genforschern Craig Venter und Francis Collins im Weißen Haus vor die Presse trat, schien ein neues Zeitalter nicht nur angebrochen, sondern beinahe schon abgeschlossen. Verkündet wurde auf dieser legendären Pressekonferenz die erste vollständige Decodierung der menschlichen DNA, jener 100-Milliarden-Basen-Sequenz, die in jeder Zelle unseres Körpers für Ordnung, Wachstum und Wandel sorgt. Von nun an könnten wir uns und unsere Kinder einfach »screenen« und herausfinden, welche Krankheiten wir haben oder ob das Talent zum Klaviervirtuosen reichen würde. Und die Zukunft der Medizin lag glasklar vor Augen: Individuelle
Medikamente für jeden einzelnen Patienten seien nur eine Frage der Zeit und würden einen Megamarkt begründen.
Wie wir heute wissen – oder langsam ahnen -, basierte das Ganze wieder einmal auf einem Framing-Fehler. Im Jahr 2000 war die Computerwelle auf ihrem Höhepunkt angelangt. Da es auch Computer waren, die die Entschlüsselung der Gensequenz überhaupt möglich gemacht hatten, übertrug man das Bild eines Computers einfach auf den Menschen, eine klare und äußerst verführerische Metapher: Wir sind durch den Gencode schlichtweg »programmiert«. Die DNA ist das festverdrahtete Betriebssystem unseres Körpers, unseres Wesens – that’s it.
In seinem Buch »Der Zweite Code« fasst der Neurobiologe Peter Spork die aktuellen Erkenntnisse der neuen Wissenschaft der Epigenetik zusammen. 11 Jede Zelle hat nicht nur eine, sondern zwei Methoden der Wandlung. Der (starre) Code der DNA wird von bestimmten Botenstoffen abgelesen und produziert via RNA jene Eiweiße, die für die Funktion der Zelle nötig sind. Dieser Expressionsprozess verläuft keineswegs, wie im alten, starren Genmodell angenommen, als reine Kopie. Eine Vielzahl von Botenstoffen und Wirkweisen auf zellularer Ebene moderieren diesen Prozess. Und geben der Zelle viel mehr Varianz und damit (Wandel-)Kompetenz, als man früher dachte.
»Organismen erhöhen ihre Komplexität nicht nur über eine Abwandlung der Gene, sondern auch über die Veränderung der Genregulation, die den Gentext unberührt lässt«, schreibt Spork. 12 Damit können wir das alte Modell über den Haufen werfen. Die DNA, die Gene sind nicht das Betriebssystem, sondern nur eine molekulare Hardware, auf der die Software der Genmodulationen läuft. Und diese wird direkt durch Umwelteinflüsse beeinflusst! Durch das, was wir essen und trinken, wie wir lieben und lernen, uns bewegen, arbeiten verändern wir die Funktionsweisen unserer Zellen! Diese Schalter bleiben im Individuum lange aktiv, und sie können sich, so die neuesten Forschungen, auch teilweise vererben.
Die Epigenetik ist eine der wichtigsten Synthesewissenschaften der Jetztzeit – ein spannendes Bindeglied zwischen Genforschung, Neurobiologie, Soziobiologie, System- und
Weitere Kostenlose Bücher