Das Buch des Wandels
Evolutionstheorie und Evolutionspsychologie. Sie deckt die oft geahnten, aber nie bewiesenen Wechselwirkungen zwischen menschlichen Verhaltensweisen und genetischen Programmen, der psychologischen und der biologischen Ebene auf. »Das Epigenom ist die Sprache, in der das Genom direkt mit der Umwelt kommuniziert«, heißt es in Sporks Buch. 13
So geht es uns früher oder später mit allen Phänomenen. Je genauer wir versuchen, Prozesse zu sezieren, Faktoren zu isolieren, desto weniger klar umrissen verstehen wir die Welt. Die Theoreme, mit denen wir die Welt beschreiben, die Ursache-Wirkungs-Ketten, an denen wir uns verzweifelt festhalten, weil sie so schön einfach sind, erweisen sich als nicht ausreichend komplex. In der Konsequenz bedeutet das das endgültige Aus für den genetischen Determinismus. Und eine kräftige Überarbeitung des darwinistischen Weltbildes. Die Rückkoppelungen zwischen Umwelt und Organismus enthüllen eine Evolutionsmöglichkeit, die in der klassischen Vererbungslehre nicht vorgesehen ist. Wir werden nicht nur von unseren Genen bestimmt, wir beeinfl ussen auch die Kontexte, in denen die Gene arbeiten! Das macht den Weg frei zu einem anderen Bild des Wandels.
Die Utopie des fluiden Denkens
In einer Stadt stehen zwei Glockentürme. Beide schlagen mit einem Abstand von etwa zwei Sekunden. Was würde ein Alien (ein »fremder Denker«) denken? Natürlich: Beide Phänomene sind kausal verbunden. Der eine Glockenschlag löst den anderen aus.
Genau so funktioniert unser Hirn nur allzu oft. Und lässt sich ungern widerlegen. Wie auch? Man müsste vielleicht den einen Kirchturm abbauen, in eine andere Stadt transportieren und dann
schlagen lassen. Aber auch das würde noch nichts beweisen. Denn vielleicht, so denkt unser Alien, gibt es eine Funksignalverbindung, eine spukhafte Fernwirkung … Man könnte natürlich auch das Schlagen der ersten Glocke verhindern und warten, was dann passiert …
Jede Reaktion, jedes Wandelphänomen auf dieser Welt lässt sich mit folgenden Begriffen beschreiben:
Kausalität: Etwas entsteht aufgrund von etwas anderem.
Koinzidenz: Etwas entsteht zufällig mit etwas anderem.
Kohärenz: Etwas hängt mit etwas anderem zusammen – in Wechselwirkung.
Resonanz: Etwas erzeugt eine höhere Wahrscheinlichkeit für etwas anderes.
Von all diesen Interpretationen wählt unser Hirn am liebsten die erste Variante. Warum? Weil es von der Evolution als »Mustersucher mit Handlungsoption« geprägt worden ist. Wir sind neurologisch verliebt in die Idee der Kontrolle. Wenn-dann lässt sich kontrollieren. Also sehen wir die ganze Welt als Uhrwerk. Und verstehen sie falsch.
Wenn wir die Welt in ihrer ganzen Komplexität verstehen wollen, müssen wir lernen, viel mehr in Prozessen, Resonanzen, Wechselwirkungen zu denken als in Wenn-dann-Ketten. Ein solches Denken in Verschränkungen möchte ich »fluide« nennen, analog zur Fließfähigkeit von Flüssigkeiten. Es ist gleichzeitig selbstevolutionierendes Denken: Es nutzt die Erkenntnisse der neuen Synthesewissenschaften für eine Weltbetrachtung, die sich aus der Erkenntnis speist, dass viele Systeme, die unser Leben tragen, selbstregelnd sind. Evolution hat nicht das Ziel, irgendetwas »auszurotten«. Sondern nur einen simplen Zweck: Leben zu organisieren. Dafür gibt es millionenfache Strategien, die nicht nur »Kampf« bedeuten, sondern auch Kooperation, Synergie, Ergänzung, Koexistenz.
Auch wenn wir nicht »parallel denken« können (Multitasking im Hirn ist nach den Ergebnissen vieler Forschungsarbeiten unmöglich;
wir können nicht gleichzeitig lesen, Musik hören und kommunizieren), können wir doch lernen, Denken auf mehreren Ebenen zu üben. Fluides Denken ist prozesshaft orientiert, multiperspektivisch, kann zwischen verschiedenen Betrachtungsebenen und Modellen hin- und herwechseln. Die Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell bezeichnet in ihrem Werk »Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen« eine solche Denkweise als »integrierten Pluralismus«. 14
Neuroplastizität: Wie das Denken in Bewegung bleibt
Bleibt am Ende die Frage offen: Kann sich unser Denken auch dann verändern, wenn wir über einen längeren Zeitraum »mental programmiert« worden sind – durch Kultur, durch Kindheitserfahrungen oder den unweigerlichen Alterungsprozess?
Auch hier gibt es wenig Ausreden. Hirne sind enorm flexibel – und zwar weit über das bislang bekannte Maß hinaus. In den USA lebt ein Mädchen, das nur eine
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