Das Buch des Wandels
in dem die Frauen vorsichtiger den Partner wählen und sich häufig scheiden lassen, müssen sich Männer mehr anstrengen, aktive Väter und gute Liebhaber zu sein. Die Frauen können in Scheidungskulturen differenziertere Rollenmodelle leben und dabei mehr Partnerschaftserfahrung gewinnen – all das führt zu besserer Lebensqualität, mehr Liebe und Zuwendung. Wenn Scheidung »geübt« wird, entstehen weniger psychologische Folgeschäden – die meisten Paare trennen sich einvernehmlich und nehmen auch danach ihre Elternrollen aktiv wahr. 10
Warum können wir die Idee, hohe Scheidungsraten seien positiv, so schwer »denken«? Für unser romantisches Hirn, das Analyse mit Gefühl verwechselt, wirkt das Ganze wie eine Beleidigung. Statt eine Liebeskultur der Freiheit und moderierten Trennung zu entwickeln, eskalieren wir den romantischen Anspruch, den moralischen Druck. Paare, die scheitern, scheitern meistens an überhöhten Erwartungen an den anderen, an Idealisierungen und Verklärungen. Und so erzeugt der moralische Diskurs eine ständige Verstärkung des Problems.
Angstfreies Denken heißt, dass wir die schnellen Emotionen zumindest für eine Weile von der Front unserer Denkoperationen abziehen. Das ist immer ein wenig ein Tabubruch. Wer es tut, handelt gegen das Betroffenheitsprimat. Aber es lohnt sich. Wenn man zum Beispiel den islamistischen Terrorismus als eine Ohnmachtskompensations-Strategie versteht, kommt man unter Umständen zu ganz anderen Strategien, den »Krieg gegen den Terror« zu gewinnen.
Faires Denken: Im fairen Denken beziehe ich Empathiegefühle bewusst in meine Denkoperation ein. Während ich einen Sachverhalt zu verstehen versuche, springe ich von Perspektive zu Perspektive: Was bedeutet dies für diese Person, für jenen Teilnehmer, für jene Partei? Welche Interessen stehen hier und dort dahinter, wie kann man womöglich mehreren Interessen gerecht werden? Wo zeichnen sich Synergien, Synthesen, Fusionen ab? Und dann entscheide ich mit einem gut trainierten Bauchinstinkt für einen Kompromiss, den ich dann auch so nenne.
Faires Denken ist die Basis jeder erfolgreichen Beziehung. Freie Marktwirtschaft ist ohne faires Denken unmöglich. Eine konstruktive Debatte bedingt die Bereitschaft, sich in den anderen hineinzuversetzen, seine Motive aufzunehmen. Funktionierende Demokratie setzt voraus, dass die Mehrheit der Menschen den Willen zu dieser geistigen Operation pflegt. Und echte Liebe geht schon gar nicht ohne.
Evolutionäres Denken
Sind Menschen Produkt ihrer Erziehung oder ihrer Gene, ihrer Umwelt oder ihrer Anlagen? Noch bis vor kurzem tobte um diese Frage ein erbitterter Streit. In meiner Jugend war die Antwort klar: Es ist die Gesellschaft! Wir sind alle Opfer! Man schaffe »den Kapitalismus« ab, und Menschen werden völlig anders – solidarisch, fröhlich, optimistisch. In den neunziger Jahren kippte die
Meinung ins radikale Gegenteil. Jede Woche wurde ein neues Gen für Intelligenz, Talent, Verbrechen entdeckt. Sie haben keine Chance, Ihrem Schicksal zu entkommen! Hoffen Sie darauf, dass in Zukunft unsere Kinder gentechnisch zu optimieren sind!
Beide Meinungen sind schlicht und einfach unterkomplex, falsch und blöde. Und genau deshalb halten sie sich so zäh.
Oder nehmen wir die Geschlechterrollen. Konservative Feministinnen (oh ja, die gibt es!) sind nach wie vor frenetisch davon überzeugt, das Mädchen und Jungs sich nicht einen Millimeter unterscheiden. Selbst wenn ihre Töchter Spielzeugbagger nachts im Bett schlafen legen und streicheln, wie ich das öfters erlebt habe, und hochfeministisch erzogene Jungs rund um die Uhr wahre Orgien von Laserschwertattacken loslassen. Über das Gegenteil, die Mars-und-Mond-These, nach der zwischen den Geschlechtern kosmische Abgründe klaffen, machen Proll-Kabarettisten unentwegt blöde Witze.
Sind Männer anders als Frauen? Die neueren Forschungen verzweifeln schon an dieser Fragestellung, weil gar nicht klar ist, auf welcher Ebene man überhaupt Unterschiede definieren soll. Alle psychologischen Differenzen – die virile Gewalttätigkeit, die große Empathiefähigkeit der Frauen – erweisen sich bei näherer Untersuchung als äußerst relativ. Da, wo sich echte Verschiedenartigkeit messen lässt, spielt sie entweder keine Rolle für den Alltag oder ist unbedeutend klein. Wenn man alle Studien zusammennimmt, kommt heraus: In 80 Prozent aller Eigenschaften gleichen sich die Geschlechter sehr . Unter dem verbleibenden Fünftel an
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