Das Buch des Wandels
Verlierern wird immer eine nächste Runde spendiert. Menschen lieben soziale Regelsysteme, in denen sie sich durch verlässliche Kontinuität zurechtfinden können. Aber wir lieben
auch Abweichungen, und zwar vor allem deshalb, weil sie uns die Regeln verdeutlichen . So gut wie jedes Drama, jedes Theaterstück, jedes »Bühnenspiel« – die älteste soziale Reflexionskunst der Menschheit – inszeniert das Drama zwischen Ordnung und Rebellion, Hierarchie und Abweichung. Das japanische Kabuki-Theater spiegelt die endlosen Rituale des Hofes, in die plötzlich eine interessante Irritation einfällt. Homer testet in seinem virtuellen Sagenuniversum die sozialen Ordnungen der Antike durch Krieg und Verrat. Shakespeare konfrontiert aristokratische Konflikte mit »dem Schicksal«. Auf diese Weise entsteht jener virtuelle Proberaum der Regeln und Rollen, in denen Menschen ihre Spielregeln prüfen, darstellen und unentwegt weiterentwickeln.
Das dritte Spiel: Wie man nicht im Gefängnis landet
Und nun sind wir beim letzten Spiel angelangt. Dem Gefangenendilemma. Dem Klassiker der Spieltheorie, bei dem es allerdings wenig verspielt, eher bitterernst zugeht.
Zwei Gefangene werden verdächtigt, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben. Die Höchststrafe für das Verbrechen beträgt fünf Jahre. Wenn die Gefangenen sich entscheiden zu schweigen, reichen Indizienbeweise nur dafür aus, beide für zwei Jahre einzusperren. Gestehen sie jedoch die Tat, erwartet beide eine Gefängnisstrafe von vier Jahren.
Diese Ausgangsposition ist, zugegeben, etwas deprimierend. Schließlich sind wir nicht alle Gangster und Ganoven. Dennoch ist das Gefangenenspiel lehrreich und gehört unbedingt in unsere Werkzeugkiste des Wandels, weil es die Kooperationsmöglichkeiten zwischen Menschen unter nüchternen Bedingungen prüft. Hier geht es um das Dilemma zwischen Kooperation und Verrat oder auch um Egoismus versus Gemeininteresse. Das Leben ist eben nicht nur Kuchenessen, sondern auch Überlebenmüssen. Die Realität sieht nun einmal so aus:
• Wir wissen nie ganz genau, wie der andere reagieren wird. Auch wenn er sich schon seit langem als verlässlicher Vertragspartner / Ehemann / Mitspieler erwiesen hat – eine Chance, dass er plötzlich sein Verhalten ändert und uns betrügt, bleibt bestehen. Wir können nicht – um im Bild des Gefangenendilemmas zu bleiben – durch die »Zellentüren schauen«.
• Wir verfügen nie vollständig über alle Informationen für unsere Entscheidungen. Das Leben bringt eine Menge Unschärfen und Unsicherheiten mit sich. Auch diese Tatsache berücksichtigt das Gefangenenspiel.
• In Wirklichkeit sind es oft nicht die Chancen (»Kuchen zu essen«), die unsere Entscheidungen prägen. Sondern das Vermeiden von Risiken, die Ängste.
Um die Strategie des Schweigens zu brechen, wird beiden Gefangenen nun ein neuer Handel angeboten, worüber auch beide informiert sind. Wenn einer gesteht und somit seinen Partner mitbelastet, kommt er ohne Strafe davon, der andere muss die vollen fünf Jahre absitzen. Davon abgesehen bleibt das Szenario gleich: Entscheiden sich beide, weiter zu schweigen, führen die Indizienbeweise beide für zwei Jahre hinter Gitter. Gestehen aber beide die Tat, erwartet jeden weiterhin eine Gefängnisstrafe von vier Jahren.
Zukunftsforscher nutzten das Dilemma bereits in den Zeiten des Kalten Krieges, um die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges zu berechnen und die Operationen des Gegners vorauszusehen. 8 Aber auch für die Frage der Wandlungsfähigkeit einer Kultur lässt sich hier eine Menge lernen. Was kommt dabei heraus, wenn man das Spiel nicht nur einmal, zweimal, sondern tausendmal spielt? Genau dieser Frage hat sich der Spieltheoretiker Robert Axelrod bereits in den achtziger Jahren an der Universität von Michigan verschrieben. 9 Er lud Kollegen aus der damals noch jungen Zunft der Spieltheoretiker ein, Programme zu schreiben, die menschliches Verhalten im Gefangenendilemma simulieren, wobei jeder Spielzug immer auf den jeweils letzten bezogen stattfinden sollte. Alle Mitspieler wandern also immer wieder sinnbildlich in die
Untersuchungszelle und treffen ihre Entscheidungen dann auch aufgrund der vorherigen Erfahrungen. Die Auswertung der Programme ergab: »Eingesparte Knastjahre«, also erfolgreiche Kooperation, bildet das Erfolgskriterium.
Bei den ersten Versuchen erwies sich eine sehr einfache Strategie als die erfolgreichste: »Tit for tat« oder auf Deutsch »Wie du mir …«
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