Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
Vom Netzwerk:
und Primaten klar: Die kommunikative Reziprokität. 5 Menschen sind Egoisten wie andere evolutionsfähige Organismen auch (wären wir als Individuen »selbstlos«, hätten unsere Gene niemals überlebt). Doch irgendwann vor rund 10 Millionen Jahren entwickelte sich in den Genen und Hirnstrukturen einiger Primaten ein kleiner, aber entscheidender Komplexitätsgewinn. Es entstanden Hirne mit besonders vielen Spiegelneuronen. Spiegelneuronen sind jene Nervenzellen, die im Gehirn eine unmittelbare Reflexion der Gefühle des anderen hervorrufen. Wenn Menschen lachen, lachen andere Menschen unwillkürlich mit. Wenn mein Gegenüber traurig oder voller Angst ist, muss ich schon ziemlich gestört sein, um nicht in irgendeiner Weise Empathie zu empfinden. Wir haben einen »simulierten Anderen« in uns! 6
    Was Menschen von Schimpansen, den ihnen genetisch nahestehendsten Verwandten, unterscheidet, ist nicht so sehr die formale Intelligenz. Auch Affen können »rechnen«; sie haben, wie viele Experimente beweisen, sogar die Fähigkeit zu symbolischer Sprache. Sie können Werkzeuge benutzen und Wenn-dann-Relationen herstellen. Was uns unterscheidet, ist die Fähigkeit, aus geteilter Aufmerksamkeit kooperative Aktivitäten mit geteilten Absichten (Wir-Intentionalität) zu entwickeln.
    Wer sozial lebt, muss sich nicht über alles selbst den Kopf zerbrechen. Wir-Intentionalität bedeutet, dass wir in der Lage sind, die Absichten anderer Menschen als Grundlage eigenen Handelns zu betrachten. Daraus entsteht im Grunde alles, was wir in den ersten Kapiteln dieses Buchs als aufsteigende Bewegung des Wandels dargestellt haben. Gemeinsame Jagd, Arbeitsteilung, Machtkontrolle, die Sprache, die das kooperativ erworbene Wissen
»speichern« kann, schließlich die Zivilisation mit ihren Interessenausgleichssystemen, Kontrollen und Restriktionen. Wir-Intentionalität birgt in sich jedoch auch mögliche Konsequenzen, die wir nicht verschweigen sollten.

Die Schattenseite der Empathie
    Wie kann ein Wesen, das geradezu eine Empathieautomatik aufweist, Auschwitz verantworten oder die Killing Fields des Pol Pot oder all die anderen Grausamkeiten, die Menschen an Menschen tagtäglich begehen?
    Die Antwort findet sich womöglich weniger in moraltheoretischen Abhandlungen als etwa in den langen, unbeholfenen Legitimationsreden der Angeklagten der Nürnberger Prozesse. Oder in der zentralen Verteidigungsphrase des »Henkers von Pol Pot«. Der Polizei- und Geheimdienstchef des Regimes der Roten Khmer, Kaing Guek Eav, alias Duch, verantwortlich für Zigtausende schrecklicher Folterungen und Tötungen, sagte bei seiner Vernehmung immer und immer wieder: »Ich habe es für mein Volk getan, für die Zukunft meines Volkes.«
    »Ich habe es für mein Volk getan.« Dieser Satz ist keineswegs »kalt« oder »grausam«. Die NS-Schergen waren keine gefühlskalten Roboter. Sie konzentrierten ihre Gefühle, ihre Loyalität, ihre Kooperationsbereitschaft und Empathie, ihre ganze Energie und Aktivität lediglich auf eine Gruppe. Auf ein imaginäres, in langer Konditionierungsarbeit »herausgearbeitetes« Wir-Kollektiv – die »arische Rasse«. Ihre Gestörtheit lag darin, dass alle anderen für sie keine Menschen, sondern Nichtmenschen darstellten .
    Diese Art der Selektion hat zwei Dimensionen: eine emotionale und eine evolutionäre. Die emotionale Seite wird deutlich, wenn wir die Biographien von Massenmördern im Pol-Pot- und Hitler-Reich studieren. Goebbels, Göring, Eichmann oder Hitler selbst waren Produkte hoher emotionaler Vernachlässigung und psychischer
Übergriffe in der Kindheit. Es waren unsicher gebundene Menschen, die ihre psychische Sicherheit in der Überidentifikation mit einem verherrlichten Kollektiv suchten. Gebrochene Menschen sind in jeder Hinsicht gefährlich.
    Die evolutionäre Dimension ist weitaus schwieriger zu formulieren. Charles Darwin hat in seiner Schrift »Die Abstammung des Menschen und geschlechtliche Zuchtwahl« die ersten Vermutungen darüber angestellt, wie es zu diesem Effekt der »Total-Loyalität auf Kosten anderer« kommen kann. Er sah denjenigen Stamm über die meisten anderen Stämme den Sieg davontragen, der in hohem Maße vom Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Mutes und der Sympathie beseelt und daher immer bereit sei, zu helfen und sich zu opfern. Für Darwin ein Fall der natürlichen Zuchtwahl.
    Die Selbstorganisation der »Stämme«, so vermutete Darwin, erfolge über »Lob und Tadel, einsichtigen

Weitere Kostenlose Bücher