Das Buch Gabriel: Roman
ich für unser letztes Besäufnis ja sogar verreisen.
Warum nicht – wenn sowieso alles egal ist?
Ich parke diesen Gedanken im Arbeitsspeicher meines Gehirns, wo die Enthusiasmen Wünsche zur Bearbeitung vorfinden. Der Gedanke sitzt da jetzt ganz allein; sämtliche alten Wünsche sind weg. Neben meinem Wunsch zu sterben existiert nur noch dieses eine Vorhaben. Mal sehen, welche Grillen die Enthusiasmen noch geltend machen – wie Sie sicher wissen, werden Wünsche in aller Regel von ihnen noch zusätzlich ausgeschmückt.
Das Licht geht wieder an, und kurz darauf kommt mit angesäuertem Gesicht David herein. »Rauchen Sie hier drin?« Er schnuppert. »Bitte rauchen Sie hier drin nicht. Ihr Vater möchte Sie sprechen.« Erst fahndet er noch schnell nach Zigaretten, dann reicht er mir das Telefon.
In meinem Arm pocht es, als ich es entgegennehme. Mit immer noch prüfendem Blick bedeutet mir David, in den Flur zu treten, und schließt hinter uns die Tür. Beim Verlassen des Raumes höre ich erst ein Zischen, dann ein Knistern. Mit einem Klicken geht das Licht wieder aus. Ein Pfleger eilt über den Gang heran.
Mein Vater sagt: »Was ist denn da eigentlich los?«
»Ich werde gegen meinen Willen festgehalten.«
»Wie bitte? Du hast es nicht anders gewollt, würde ich sagen. Rauchst du da drin etwa?«
Ich lasse ein paar Sekunden des Schweigens ins Land gehen, um seinem Tonfall die Spitze zu nehmen. Dann sage ich: »Ein Gefängnis sollte es aber nicht sein.«
»Du kannst froh sein, dass du nicht im Gefängnis bist. Deine Kommunistenfreunde sind ständig in den Nachrichten.«
»Übertreib nicht. Und Kommunisten sind die auch nicht, sondern Anti-Kapitalisten.«
»Vandalen sind das, genau wie diese Rotte von Tierschützern. Rauchst du etwa?«
»Hör mal …«
»Alle angeklagt, das ganze Pack.«
»Der Punkt ist: Ich habe nichts gemacht.«
»Und immer sind es eure Eltern, die euch dann da rausholen müssen, das finde ich herrlich.«
Ich halte den Mund, während er über dies und jenes Dampf ablässt, über die »Parasiten, die nichts zur Gesellschaft beitragen« und so weiter. Älterwerden macht unweigerlich konservativ, da führt kein Weg dran vorbei, es sei denn, man ist Franzose. Irgendwann ist es an meinem Ende der Leitung still genug, dass David sich wegen der Therapiegruppe entschuldigen kann und weggeht. Ich bin alleine im Flur.
»Ich bin auf ein paar Probleme gestoßen«, sage ich schließlich.
»Ach, tatsächlich. Es ist ein Wunder, dass du diesen Brandsatz überhaupt noch hochheben konntest.«
»Das meine ich nicht, meinen ersten Drink hatte ich erst viel später. 10 Ich versuche gerade, dir zu sagen, dass ich den Glauben an die Sache verloren habe. Das Haus war viel zu schön, um es zu beschädigen. Es waren Kapitalisten, die es restauriert haben, dieses stolze viktorianische Denkmal mit seinen Pfeilern und Volants. Geld hat es restauriert. Es war wie eine Offenbarung. Mir war plötzlich klar, dass nicht das Kapital das Problem ist – sondern dass ich das Problem bin. Dass wir das Problem sind. Dass die Natur das Problem ist. Warum war ich gekommen, um so ein schönes Gebäude zu beschädigen?«
»Noch mal zwei Schritte zurück«, sagt mein Vater. »Du bist also das Problem.«
»Ich habe meine Bankkarte an die Tür zur Bank gehalten – und sie haben mich reingelassen. Die Leute von der Aktionsgruppe haben Beifall geklatscht, weil sie dachten, ich hätte eine Bresche in die Verteidigung geschlagen. Für sie. Dabei stand ich einfach nur drinnen und habe zugesehen, wie sie auf den Stufen verhaftet wurden. Ihre Gesichter werde ich nie vergessen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Egal, mit wem ich mich verbünde, die Mehrheit wird mich immer ausstoßen. Meine Bemühungen, eins mit der Menschheit zu werden, waren sinnlos. Es gibt nicht nur den einen rechten Weg. Das eine wirklich Wahre. Gott ist tot, die Märkte haben ihn ersetzt. Und auch die sind gerade dabei, sich zu verabschieden. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind, weil es nämlich kein Wir mehr gibt.«
»Was meinst du mit Gott ist tot ? Du hast jede Freiheit, dich für ein Glaubenssystem deiner Wahl zu entscheiden, das ist doch gerade das Tolle an der heutigen Zeit!«
»Dad – es gibt einen Film, der heißt Die Zeugung Jehovas !«
»Du bist ja komplett von der Rolle. Haben sie dir Beruhigungsmittel gegeben?«
»Vor ein paar Wochen habe ich angefangen, Heart FM zu hören, und ich musste weinen. Wegen Popmusik. Mir ist klar geworden,
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