Das Buch Gabriel: Roman
wenn sie, sagen wir mal, ein paar verdrängte Traumata entdecken – wem ist damit geholfen? Dann bleibe ich auf dem Batzen sitzen, für den ganzen Rest meines Lebens.«
David steht Gewehr bei Fuß, bereit, mir das Telefon abzunehmen. Ich drehe mich weg.
»Kein Problem«, sagt mein Vater. »Es kann nicht falsch sein, in ein paar Angelegenheiten Licht zu bringen. Und von wegen einmal – mit dir stimmt schon länger was nicht. Da muss einiges ans Licht.«
Damit ist er in die Falle getappt. Ich warte ab, bis ihm dämmert, was dieses »Licht« bedeutet: Professionelle Manipulatoren untersuchen den Glastür-Vorfall. Ich kann hören, wie sich vor seinem geistigen Auge ein Dialog abspult. Auf der einen Seite ich, schluchzend, auf der anderen der Therapeut, triumphierend. Und dann wieder ich, erfolgreich bis zum Abwinken, denn für meine Heilung hat es nicht mehr gebraucht, als meinen Vater in der Presse anzuklagen und ein Hilfsprojekt für misshandelte Kinder zu starten.
Der Name des Wohltätigkeitsprojekts: Splitter .
Das Logo: eine zersplitterte Tür .
Ich sage nichts. Das Praktische an Schuldigen ist, dass ihre Ängste ohne Zutun der Außenwelt immer größer werden. Das kenne ich aus der Zeit zwischen der Scheidung meiner Eltern und dem Tod meiner Mutter – da kam sogar mein Vater unter der Last seiner Schuld ins Schlingern.
»Berlin, Berlin«, sagt er schließlich ganz bedächtig, als ob er gerade zum ersten Mal davon gehört hätte. »An Gerd, meinen Partner im Pego Club, erinnerst du dich sicher nicht mehr. Er hat mich nie richtig ausbezahlt. Wahrscheinlich sollte ich meinen verdammten Anteil einfordern. Das muss ein Riesending sein heute – kannst du dir das vorstellen, so ein Club, heutzutage? Unglaublich. Gerd Specht. Damals musstest du ihm noch die Lunte unter den Arsch halten.«
»Darum könnte ich mich ja vielleicht für dich kümmern. So à la Familienbetrieb.«
»Du und Gerd Specht? Du spinnst wohl. Auf gar keinen Fall. Er ist ein sehr dekadenter Mensch. Jetzt gib mir endlich den Doktor.«
»Das ist kein Doktor.«
»Gib ihn mir.«
Ich reiche das Telefon weiter. David scheucht mich den Korridor hinauf in Richtung Empfang, wo Dalí dabei ist, Schließfächer hinter dem Tresen zu öffnen.
David bittet meinen Vater, einen Moment dranzubleiben, legt die Hand über die Muschel und lächelt mich an: »Mineralwasser?« Als ich den Kopf schüttele, winkt er Dalí heran und sagt sanft: »Ein Wasser. Und sehen Sie doch nach, ob Roman heute Zeit für eine Nachtwache hat. Ich brauche auch ein Überwachungszimmer, ich glaube, die Acht ist frei.«
Er meint Beobachtung wegen Suizidgefährdung. Ich verspanne mich, als das Dalí-Mädchen mit den Fingern irgendwas hinter dem Tresen drückt. Auf der Tischplatte wird eine Seite umgeblättert. Aus der Gegensprechanlage tönt es: »Roman bitte zum Empfang – Roman bitte.«
Ich bin schon fast dabei, mich dem Trübsinn anheimzugeben, als plötzlich, mitten in die Pause des Szenenwechsels und die ineinanderfließenden Klangteppiche hinein, der Feueralarm die Stille erschüttert.
Whoosh. Die Enthusiasmen stehen mir bei. Vom hinteren Flurende kommt ein Pfleger gerannt, sieht in jedes Zimmer und wirft die Türen hinter sich zu, während David in plötzlichen Aktionismus ausbricht. Klienten kommen den Gang entlanggewatschelt, froh über die Abwechslung, und sogar die Küchenkatze – der so genannte vierbeinige Ko-Therapeut – wird aufgescheucht.
»Rauch!«, brüllt der Pfleger. »Im Raum der Stille!«
Die Sirene schrillt, David stürzt den Korridor hinunter, und während die Klienten hinaus auf den Vorplatz schlurfen, bleibe ich zurück und mache den Schlüsselkasten hinter dem Tresen ausfindig. Kaum ist das Dalí-Mädchen außer Sichtweite, suche ich nach meinem Schlüssel, öffne das Schließfach und schnappe mir mein Portemonnaie und mein Handy, dann beeile ich mich, nach draußen zu den anderen Evakuierten zu kommen.
Dort geht unter den Scheinwerfern ein Nieselregen nieder, von den Launen des Windes getrieben schießt er durch die Gegend wie Diamanthagel, während sich alle zusammenrotten und auf eine Explosion warten – ziemlich hoffnungsvoll, wie mir scheint. Sobald ich sicher bin, dass alle abgelenkt sind, tauche ich zwischen die Bäume, die die Auffahrt säumen, und schleiche mich in ihrem Schatten Richtung Straße davon.
Mein Weg führt am Raum der Stille vorbei.
Schabend geht ein Fenster auf, und Stimmen wehen heraus:
»Sieht nach einer Zitrone
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