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Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
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Marktnische gefunden und ein Produkt entwickelt, um sie zu füllen – das Produkt dann aber einfach verschenkt.
    Ein Handbuch für Verlierer, sagte mein Vater dazu.
    Mein Vater hatte den Kapitalismus umarmt wie ein Pädophiler. 8 Damals, als es noch cool war, Fehler zu machen, solange das zur Reise Richtung Selbsterkenntnis gehörte. Damals, als Fortschritt noch bedeutete, neue Wege zu finden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Er gehört zu der Generation, die sich vorgenommen hat, der beste Freund ihrer Kinder zu sein. Die sich heute fragt, was da passiert ist. Passiert ist, dass es seit dreißig Jahren keine Eltern mehr gibt.
    Nur lockere Freunde, denen man nicht trauen kann.
    Egal. Ich werde meine Aufzeichnungen nicht mit Geschichte belasten, es ist zu spät. Hinter der Tür zum Raum der Stille höre ich David Wests Stimme näher kommen. Aus seinen Pausen und Betonungen kann ich schließen, dass er meinen Vater am Apparat hat. Die nächste Hürde.
    »Technisch gesehen ginge das«, sagt David. »Zum Beispiel in Ihrer Obhut. Aber ich würde davon abraten, bevor wir ihn nicht gemäß der Gesetzeslage evaluiert haben.«
    Mir fällt die Kinnlade runter. Sicher meint er das Gesetz für psychisch Kranke. Ich stelle mich wieder vors Fenster und sehe zu, wie der Herbst die Dunkelheit draußen auspeitscht. Jeder Sommer ist irgendwann mal vorbei, scheint der Ausblick zu schreien. Und habe ich den gerade vergangenen Sommer genossen? Habe ich jeden Tropfen Saft aus ihm herausgequetscht? Nein. Weil ich nicht wusste, dass es der Moment vor diesem Moment war, dass auf den Sommer dieser Herbst folgen würde. Hätte ich es gewusst, wäre ich vielleicht durch sonnenhelle Felder getollt und hätte meine Schuhe gen Himmel geworfen. Aber wer weiß schon, welcher Moment der Moment davor ist? Und wie könnte man ihn, selbst wenn man das wüsste, bewahren? Das sind die großen Fragen des guten Lebens.
    So beladen mit unbeantworteten Fragen bin ich, so schlecht gerüstet fürs Leben.
    Mein Limbus ist schlaff geworden. Ich sehne mich nach dem Tod. Doch dann denke ich: Es muss ja nicht sofort sein. Und schon lande ich wieder im Limbus. Ein endloser Kreislauf.
    Und erster Stress tritt auf: Was, wenn meine Entschlossenheit nachlässt? Ich darf das Risiko nicht eingehen, den Schwung zu verlieren. Wenn ich sterben will, sollte ich in jedem Moment darauf vorbereitet sein. An jedem neuen Ort und in jedem neuen Zimmer sollte ich mich auf die Suche machen nach möglichen Todeswerkzeugen.
    Und wenn ich es wirklich ernst meine, sollte ich gleich hier damit anfangen.

4
    Ich hole die tropfende Zitronenscheibe aus dem Wasser. Dann lehne ich mich übers Sofa, knipse die Lampe an und fummle den Stecker ein kleines Stück aus der Wand. Er hat einen Federmechanismus, der ihn eigentlich ab einem bestimmten Punkt herausspringen lässt, aber ich nehme ein paar Zeitschriften vom Tisch und schiebe sie zwischen Boden und Steckdose. So wird der Stecker in einem Abstand zur Steckdose gehalten, durch den immer noch Strom fließt. Und da schiebe ich die Zitrone rein.
    Whoosh. Peng! Ein Schlag schießt durch meinen Arm. Im gesamten Haus gehen Maschinen und Lichter aus. Mit schwindenden Sinnen fliege ich rückwärts.
    Eine dunklere Stille legt sich über alles. Der Tod?
    Dann Schritte hinter der Tür.
    Mechanismen zur Arbeitssicherheit haben sich zwischengeschaltet. Ich dehne meinen Kiefer, bewege ihn nach links und rechts, blinzele ein paarmal. Als mein Bewusstsein zurückkehrt, breitet sich ein neues Gefühl in mir aus. Ich bin durch die nächste kleine Tür geschlüpft. Zurück in der Limbus-Zwischenzone – aber diesmal tiefer drin, auf einer neuen Ebene. Verglichen mit dieser Hochglanzsturmbö war der erste Limbus gerade mal ein laues Lüftchen. Vielleicht, weil ich unter Beweis gestellt habe, dass ich mutig genug bin für tödliches Risiko und Schmerz. 9 Vielleicht legt einem der Limbus, wenn man sich auf der Treppe nach oben zu seinem Boudoir befindet, auch Prüfungen in den Weg, so wie bei einer echten Odyssee. Als ich mich umsehe, merke ich, dass ich mich ein weiteres Stück aus der Objektwelt entfernt habe, fast so, als würde ich einen iPod tragen; was nur hilfreich sein kann, um mit meinem Vater zurande zu kommen, der, wie Geräusche an der Tür nahelegen, die nächste Prüfung sein wird. Klar ist: Mein Limbus muss ausgedehnt werden. Vielleicht muss er noch die ganze Nacht dauern – oder sogar noch ein, zwei Tage lang. Vielleicht müssen Smuts und

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