Das Buch Gabriel: Roman
Gottfried schleicht in Arbeitskleidung und Handschuhen herum, wirft sich mal an der Bistrotheke in Pose und strolcht dann wieder durch die Gegend. Irgendwann bricht über ihm ein goldenes Licht durch die Wolken, und er blickt zu mir rüber, ohne zu lächeln – aber ich weiß, dass es ein Lächeln ist. Der Himmel und seine kahlen Baumkronen sind jetzt wolkenlos und unbewegt. Auf der Straße ist es ruhig, aber auch nicht zu ruhig. Und dann kommt der Moment, in dem Thomas in schwarzer Abendgarderobe zurückkommt und sich neben mich auf den Bordstein hockt, in die Lücke zwischen Kommandozentrale und Küche. Wir blicken auf eine Straße, an der nichts auf Lustbarkeit oder Enthemmung deutet, die frei ist von Neonködern, grellen Anreizen und bunt blinkendem Tand – eine Straße, die glanzlos und stillgelegt wirkt, ohne Versprechen auf große Geschäftseröffnungen in naher Zukunft. Ihre Bewohner halten sich in den oberen Stockwerken auf. Die Läden im Erdgeschoss schreien ihre Metiers nicht heraus, einige erwähnen ihres noch nicht mal.
Und wir, die wir hier das großartigste Bacchanal seit dem Fall von Rom erwarten, das Gastmahl des Trimalchio, Des Esseintes’ letztes Gefecht, den großen Abend des Dorian Gray, die Geister von Andreas-Salomé, Caragiale, Baudelaire, HlavácŠek, Mirbeau und Tonegaru, rauchen an der Bordsteinkante Zigaretten und aalen uns im kühlen Sonnenlicht.
»So, mein Junge.« Irgendwann blinzelt Thomas in den Himmel. »Das ist es also. Ich frage mich, wie viele Seelen wir in den Himmel schicken.« Um uns Glück zu wünschen, boxt er mir gegen die Schulter.
Ich spüre ein Zittern. Die Luft ist elektrisch geladen, verstärkt durch das Scharren billiger Schuhe auf der Straße und dem trägen Dröhnen der Lkw-Motoren. Aber der Abend fängt gerade erst an.
Bei Sonnenuntergang beginnen an der Seite des Flughafens zum Columbiadamm hin Walkie-Talkies zu knistern. Ich sehe einen hochgewachsenen Franzosen in den Keller stolzieren: der Wachposten mit seiner Startpistole. Thomas stellt mir den Buchhalter vor, einen bärtigen, gnomenhaften Mann. Er schüttelt mir die Hand und geht die Treppe hinunter, um seine Position einzunehmen, dann kommt ein weiterer Mann des Wegs, den Thomas mir etwas bedeutungsschwanger als den »Kurier« vorstellt.
Schließlich bekomme ich in meinem fließenden schwarzen Cape, dem Dreispitz und der weißen Halbmaske einen Anruf, dass ich mich durch den Tunnel zum Flugfeld bewegen soll. Am Tunnelausgang weht ein scharfer Wind. Der Himmel über Tempelhof ist grau und abendblau getigert. Eine Handvoll Sterne funkelt bereits, bald kommen noch Flutlichter sowie Gottfrieds pfeifender Atem dazu, als er sich aus den Schatten neben mir schält. Wir sehen einen Jet landen, der im Profil wie ein langes Taxi aussieht und wie ein Raubtier in geduckter Haltung brüllt und schimmert. Gottfrieds Zunge bewegt sich in seinem Mund. Seine Augen sind durchscheinend, fast weiß. Dann stößt er mich mit dem Ellbogen an:
»Schau dir das an – wie die glänzt. Das ist mal eine Maschine. Wie ein Porsche, was?«
Wir wechseln noch einen Blick, dann verschwindet er in meinem Rücken. Ich beschirme meine Augen mit der Hand, als der Jet mit seinen Lichtern auf mich zuhält. Schattenhaft glimmen Gestalten im Cockpit, als er federnd, pfeifend und quietschend zum Halten kommt. Sofort fahren seine Treppen aus.
Sieben Gäste mit Frack und Menschenmasken steigen aus. Ich ziehe das Cape fest um mich, drehe mich zackig um die eigene Achse und führe sie durch den Tunnel zum Wunderland. Es dauert nur Sekunden, bis die Männer mir auf die Nerven gehen: Sie trödeln, unterhalten sich lauthals über Geschäftliches und scheinen nicht das geringste Interesse an dem Ort zu haben; es ist, als würden sie mal eben vom Büro zum Bistro um die Ecke gehen. Ich stelle fest: Der Zentralflughafen ist für mich zu einem heimlichen Miguel geworden, zu einem Freund, und ich stehe den Marsch nur unter Qualen durch. Während wir immer weiter in den Komplex vordringen, werden die Echos der Stimmen lauter und abgehackter. Folgendes bekomme ich zu hören:
»Frag ihn doch«, sagt einer. »Ich glaube, das ist die Theorie der dritten Generation.«
»Du meinst, Stochastik? So was Ähnliches wie das Black-Scholes-Modell?«
»Nein, nein«, hustet ein anderer. »Es geht nicht um Schwankungsanfälligkeit, das ist ein Verbrauchermodell. Das damit operiert, dass sich die Hälfte aller Konsumenten von Gutschein-Angeboten beeinflussen lassen,
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