Das Buch Gabriel: Roman
sehen uns an; mit leicht geöffnetem Mund rechnet er die Konsequenzen durch.
»Ein Angriffszug«, flüstert er. »Endspiel.«
An einer dunklen Stelle des Tunnels, ein paar Meter von der Tür zum Gewölbe entfernt, wartet die Schildkröte in ihrem Rollwagen, während sich die Transporteure drinnen das Okay abholen. Die Tür hat sich hinter ihnen geschlossen. Nachdem er sich in alle Richtungen umgesehen hat, drückt Gottfried kurz meinen Arm und schlendert in Richtung des Appellpostens. Ich warte, bis er auf halber Strecke ist, dann sprinte ich zur Saaltür und zische der Schildkröte im Vorbeilaufen eine Entschuldigung zu. Als Gottfried beim Franzosen ankommt, gehe ich in der Tür zum Salon in die Hocke und zünde den Böller.
Ein ohrenbetäubender Knall lässt die Luft in Schockwellen erbeben. Ein paar Sekunden später brechen Transporteure, Mädchen und Jungen durch die Tür und rennen wild um sich schlagend in den Tunnel. Ich drücke mich flach gegen die Wand und höre die Mächte durchs Wunderland stolpern:
»Lass liegen, lauf!«, ruft es. »Bloß raus hier!«
Der Buchhalter drängelt sich vorbei, verzweifelt darum bemüht, sein Tablett und seine Feinwaagen zusammenzuhalten, doch an der Tür rennt ihn der beleibte, nur mit einem Hosenbein bekleidete Gast um, und er lässt das Tablett samt den Diamanten fallen. Der Gnom erstarrt, sieht sich um – aber da die Gäste alle weg sind und das Echo ihrer Schritte sich entfernt, ergreift auch er schnell die Flucht.
Zu keinem Zeitpunkt wurde falscher Alarm gegeben. Hinten im Tunnel sehe ich Gottfried zu einer Nische in der Wand watscheln; zwischen seinen eigenen Beinen baumeln zwei weitere. Die folgenden Momente sind gespenstisch. Kein Geräusch ist zu hören. Der Salon ist so leer wie nach einem Bombenanschlag, der Boden glitzert vor Diamanten, und ich gehe durch den Tunnel, bis sich darin eine einsame, gedrungene Gestalt abzeichnet. Als meine Schritte sich nähern, fährt ihr Kopf aus und schwenkt herum. Und bald hallen andere Schritte durch den Tunnel, leichte Schritte, die jetzt die Treppe hinabgeflogen kommen; dann der Umriss einer kleinen Person.
Sie sieht mich neben dem Rollwagen hocken und bleibt wie angewurzelt stehen.
Ich streichle den Panzer der Kreatur. Dann rücke ich nah heran, halte mein Gesicht neben das der Schildkröte und deute auf das Mädchen.
Ich lasse ihr Zeit zum Staunen.
Und sage: »Whoosh.«
23:15
In der letzten Stunde seiner ersten Existenz verlassen Gottfried Pietsch und ich durch einen Personaleingang den Zentralflughafen ein für alle Mal. An der Tür erwartet uns eine kühle Nacht. Die Catering- und Küchenwagen haben den Columbiadamm verlassen, die Demonstranten haben sich zerstreut. Ein Stück weggeworfenes Papier flattert über den Gehweg.
Hinter uns im dunklen Flughafengebäude erläutert kein Matrose mehr, warum Dieter auch Gerd heißt. Keine Tubas spielen, keine Würstchen werden ausgegeben. Kein Pferd steht auf dem Flur. Auf dreieinhalb Millionen Quadratmetern Berlin dröhnen keine Rosinenbomber mehr, keine Kinder warten, keine Berliner hoffen, keine Piloten winken, keine Kommunisten sehen aus der Entfernung zu.
Keine Nazis fliehen, keine Russen marschieren ein, keine Feuer flammen auf.
Eine Sphinx, die sich in ein Leben locken ließ, das nicht existierte, tritt gemeinsam mit einem Freund, dessen Staat nicht sein konnte, aus einem Denkmal, dessen Zeit nie kam, in eine Stadt, die erneut ist.
Der Limbus ist zu Ende.
Ein Wind kommt auf.
Als wir auf den Gedenkgarten mit dem Adler auf seinem Sockel zugehen, im gebieterischen Schatten eines Bauwerks, das die menschliche Geschichte überdauern sollte, startet kreischend ein Business-Jet in den Himmel über Tempelhof. Raketengleich schießt er in die Nacht und funkelt mit roten und weißen Lichtblitzen einen eiligen Herzschlag. Wir bleiben stehen und starren ihm schweigend nach, bis sein Puls sich in den Wolken auflöst, bis sein Donnern verhallt und nur ein flüsterndes Echo bleibt, das schließlich auch zwischen den Sternen erstirbt.
Als wir uns wieder der Straße zuwenden, kommt eine bekannte Gestalt auf uns zu. Gottfried wartet und nickt fast unmerklich: »Die Piratenburg muss zugemacht haben.«
» Haa «, winkt Gerd. »Fast hätte ich unser Feuerwerk vergessen!«
Gottfried sieht mich an, bevor er auf seine Uhr schaut.
»Nord-Ost«, sage ich ohne nachzudenken. »Helsinki.«
Vom Bier etwas unsicher auf den Beinen, macht Gerd noch ein paar Schritte auf uns zu,
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