Das Buch Gabriel: Roman
nämlich eine Überwachungskamera, und das bedeutet: Ich bin verdächtig. So wie man aus Angst, sich aus einem plötzlichen Impuls heraus vielleicht doch hinabzustürzen, nicht an den Rand einer Klippe tritt, so sollte man auch vor einer Sandwich-Vitrine Abstand wahren – womöglich wissen sie dort etwas über einen, das man als Verdächtiger nicht weiß. Und plötzlich lässt man unter dem Druck des prüfenden Blicks unabsichtlich ein Sandwich mitgehen.
Ach, Sandwiches.
Als ich mich schließlich entscheiden muss, gehe ich auf Nummer sicher und wähle Ei. Ich nehme das Sandwich, bei dem am meisten Gelbes zu sehen ist, aber als ich nach dem Kauf das Brot anhebe, entdecke ich am vorderen Ende ein paar hübsch drapierte, halbierte Eigelbscheiben, während auf der gesamten, weitläufigen hinteren Fläche nur ein einziges, einsames weißes Scheibchen liegt.
Mit derart geschmälertem Glücksgefühl gehe ich zum Bahnsteig. Wegen der Durchsagen, die aus den Lautsprechern dröhnen, kann ich meine Handynachrichten nicht abhören und konzentriere mich stattdessen auf die vielfältigen Möglichkeiten, für Chaos um Verständnis zu bitten. Es ist genau eine. Der Zug kommt pünktlich, aber als ich einsteige, will die Schaffnerin meinen Fahrschein sehen. Sie ist hübsch, setzt aber an Fesseln und Hüften Fett an, was ein Zeichen für das Reisen im Norden Londons ist; ein stolzes Reisen verglichen mit dem im Süden, wo die Frauen Hosen unter den Kleidern tragen – und sich einbilden, dass das den Arsch kaschiert.
»Es tut mir leid, aber das ist nicht Ihr Zug.« Sie zeigt auf den Fahrschein.
»Was? Aber meiner fährt doch jetzt, um einundzwanzig Uhr sechsunddreißig.« Noch während ich das sage, verlangsamt ein patrouillierender Polizist seinen Schritt und sieht zu uns rüber, wahrscheinlich um die Chancen auf eine Messerstecherei abzuwägen.
»Dieser Zug fällt aus, fürchte ich. Das hier ist ein verspätet eingetroffener Zug, der um einundzwanzig Uhr einundzwanzig fahren sollte. Sie werden warten und den nächsten nehmen müssen.«
Ich sehe in den leeren Wagen. Den Zug zu verpassen kann ich mir nicht erlauben, ich spüre schon die Einsatzkräfte der Klinik, meinen Vater und sicherlich auch die Polizei in meinem Rücken.
»Laut der Beförderungsbedingungen für den Frühbuchertarif müssen Sie im Fall eines Zugausfalls den nächsten Zug nehmen. Und das ist der um einundzwanzig Uhr neunundfünfzig, der allerdings heute nicht vor zweiundzwanzig Uhr zwanzig eintreffen wird.«
»Und was kann ich tun, um in diesen Zug hier zu kommen?«
»Da müssten Sie sich beim Schaffner ein neues Ticket zum vollen Flexibilitätstarif kaufen, fürchte ich.«
»Und kann ich diesen Fahrschein dann zurückgeben?«
»Es tut mir leid, aber die Konditionen für den Frühbuchertarif …«
»Aber ich habe ihn erst vor zehn Minuten gekauft.«
»Es tut mir leid, aber Ihr Zug ist gerade eben erst gestrichen worden. Sie können im Reisezentrum nach dem entsprechenden Formular fragen und sich an den Kundendienst wenden. Die Geschäftsbedingungen …«
Geduldig lasse ich den Sermon aus Kleingedrucktem über mich ergehen und sehe sie dann an. Sie hat abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt. Für den Fall, dass ich mich aufs Drohen verlege oder ausfällig werde, wartet der Polizist immer noch in Alarmbereitschaft ab, während uns von jedem Giebel, aus jeder Ecke und jedem Winkel, von jedem Turm und jedem Pfosten summende Videokameras beobachten, diese ersten Sprösslinge des Faschismus – dem System, das der Verfall hervorbringt, um die von ihm verursachte Sauerei aufzuwischen. »Hm. Tja.« Ich kratze mich am Kopf. »Sie können ja nichts dafür.«
Mitfühlend legt sie den Kopf schief und wackelt davon. Enttäuscht zieht auch der Polizist weiter. Diese Interaktion wirft ein grelles Licht auf mein Problem im Krieg gegen das Kapital: Seine führenden kriminellen Köpfe haben sich unerreichbar hinter solchen Rädchen im Getriebe verschanzt, denen man keinen Vorwurf machen kann, weil auch ihr Leben zwischen anderen Zahnrädern zermalmt wird.
Ein menschliches Schutzschild, das die gesamte Gesellschaft überspannt.
Es wäre vielleicht etwas anderes, wenn ich die Mächte der Finsternis selbst treffen könnte. Bringt mir die Mächte der Finsternis! Mit denjenigen, die uns schon so weit heruntergewirtschaftet haben, dass wir jede Zumutung akzeptieren, möchte ich in einen Raum gesperrt werden, und dann werden wir sehen.
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