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Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
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finden, in dem sich diese unterdrückte Vitalität vielleicht zum Spielen heraustraut; ich finde, der Preis, um sie immerhin ein Mal lebendig aufflackern zu sehen, ist fair. 12
    Siebtens, den Enthusiasmen ist klar, wie die Dinge laufen. Das Aufkommen der Wissenschaft als Quelle der Weisheit – eine Wissenschaft, die kurzfristig erworbenes, dürftiges Wissen an alle Tatsachen heftet – hat Fortunas offensichtlichste Wahrheit in Vergessenheit geraten lassen: dass jedes nicht von Rauschmitteln induzierte Glücksgefühl falsch ist. Das war schon immer so. Deswegen gibt es ja Rauschmittel in der Natur. Aber Rauschmittel bezahlt man mit dem Tod. Die Botschaft ist klar: Lebe kurz und glücklich, ein langes Glück gibt es nicht – dann tritt ab.
    Ich laufe auf Straßenlaternen zu, die den Himmel erleuchten wie ein nächtliches Aquarium; Wolken kriechen aufeinander zu wie Seeschnecken beim Fressen. Das Grundrauschen Englands wird vom Regen, der mir aus vollen Händen ins Gesicht klatscht, und von Salven zersplitterten Lärms unterbrochen. Binnen kurzem liegt eine traditionelle englische Stadt vor mir. Zu ihr gehören ein Tesco-Supermarkt, ein Carphone Warehouse, eine W. H.-Smith-Filiale, ein Vodafone-Shop, ein Burton-Herrenbekleidungsladen, ein Argos-Möbelmarkt, eine Boots-Drogerie, ein Burger King, ein KFC, ein Subway, ein Halfords-Heimwerkermarkt, eine Shell-Tankstelle, ein Iceland-Tiefkühlgerichtemarkt, ein McDonald’s, zwei Wohltätigkeitsläden, drei Pound Shops, ein Bahnhof und eine Polizeiwache.
    Hinter Bäumen duckt sich eine dunkle gotische Kirche.
    Es beruhigt mich, in meinem welligen Land zu sein. Klar, das britische Empire ist das Weltreich des modernen Kapitalismus, eine Erfindung seiner durchgeknalltesten Spinner, trotzdem finde ich, der allergrößte Makel des Kapitalismus geht nicht auf unsere Kappe. Sondern – wie alles ursprünglich Hoffnungsvolle – auf die der Natur und ihrer zu Scherzen aufgelegten Handwerkskunst. Diese blöde Natur, die wir nach Maßgabe der Kirche als perfektes System bewundern, hat uns verkrüppelt – so wie sie alles mit ihren schlampigen Entwürfen verkrüppelt und abtötet. Alles, was wir im Laufe der Geschichte auf Betreiben der Natur geleistet und erreicht haben, hat uns nur immer weicher werden lassen, bis wir heute so weich dastehen wie Kinderscheiße. Und mein geliebtes Land, das so lange Spitzenkraft war, hat’s voll abgekriegt.
    Sie ist uns Wiedergutmachung schuldig, die Natur, so viel ist sicher.
    Darum kümmern wir uns in einer ruhigen Minute, bei einem Glas Wein.
    Ein Feuerwehrauto mit Blaulicht braust vorbei. Ich wende mich ab und starre den Burger King an, als ob ich überlege, ihn zu kaufen. Doch whoosh – ich entdecke tatsächlich Schönheit: Am Rande des Schriftzuges funzelt eine Neonröhre schwächer und verursacht eine geschmackvolle Abstufung von Rottönen, von scharfem Paprikarot zu getrocknetem Blut. Die Stelle ist in einer unteren Ecke, weswegen es so aussieht, als sammele sich dort dunkle Materie, die von nahe stehenden Laternen mit funkelnden Lichtreflexen übersät wird. Keine Orchidee oder Lilie, sinniere ich, könnte erlesener sein als dieser Teil eines gewöhnlichen Schildes.
    Und welche Blume ist schon Teil des Wortes »King«.
    Der Bahnhof dröhnt in einer Wechselspannung aus Apathie und Wut, gebeutelt von ungebremst durch ihn hindurch schießenden Zügen. Ich schalte mein Handy ein und höre das Piepsen einer ganzen Reihe von Nachrichten.
    »Einmal nach London, bitte«, sage ich zu dem Mann am Schalter.
    Er sieht hoch: »Das macht achtundvierzig Pfund dreißig.«
    »Nur für die Hinfahrt? Das ist ein Pfund pro Minute. Und erste Klasse?«
    »Fünfundfünfzig.«
    »Dann nehme ich ein Erste-Klasse-Ticket.«
    Der Fahrkartenverkäufer starrt mich durch den oberen Rand seiner Brillengläser an. »Es gibt auch noch den Frühbuchertarif, für zweiunddreißig Pfund, falls Sie schon genau wissen, welchen Zug Sie nehmen wollen.«
    »Ja, bitte, den nächsten Zug.«
    Er blinzelt seinen Monitor an: »Das ist dann der um einundzwanzig Uhr sechsunddreißig. Abfahrt in zehn Minuten.«
    Nach dem Fahrkartenkauf gehe ich in den Laden, wo ich eine ganze Weile unschlüssig vor der Sandwich-Vitrine stehe. Diese ernsthafte nationale Beschäftigung ist es wert, ein letztes Mal in vollen Zügen genossen zu werden, mitsamt dem süßen Gruseln, vielleicht eine schlechte Wahl zu treffen und das Glück zu schmälern. Allzu nahe gehe ich nicht an die Vitrine dran, es gibt

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