Das Buch Gabriel: Roman
einen zweiten Fahrschein nach London. Die Frustration in mir fächert sich auf wie Spielkarten auf der Hand, nicht zuletzt deswegen, weil unsere Sprache uns mit ihren »Sorrys« und »Es-tut-mir-Leids« ausrüstet. Derart pflastert sich sicher keine andere Sprache ihren Weg in die Betroffenheit. Und dann hat der Zug mal wieder Verspätung, weil die Gleise und Signalanlagen Investitionen nötig haben, die zu kostspielig sind; mein Fahrschein kostet fünf Mal mehr als in Holland, weil das Bahnunternehmen gleichzeitig diese sich auflösende Infrastruktur unterhalten und die Profitrate steigern muss; der Frühbuchertarif ist nur deswegen günstiger, weil viel weniger Fahrkarteninhaber die durch das Rouletterad der Verspätung oder durch einen Trick im Kleingedruckten vereitelte Reise tatsächlich antreten.
So ist der Stand der Dinge: Jede kleine Flucht und jeder Hoffnungsschimmer, jede Form von Wut und Beruhigung, die Mühen und die Fron des Alltags – all das verdankt seine heutige Form allein dem Profit namenloser Anderer. Angesichts dieser Beraubung mache ich es, wie ich es als Engländer gewohnt bin, und beschließe schlicht und ergreifend, mit diesem Zug nicht noch mal zu fahren. Die Pointen, die diese Entscheidung wachruft, verbessern sogar meine Laune: Diesen Zug nehme ich nicht noch mal – nur über meine Leiche. Ha, ha.
Als der Zug durch Stevenage rattert, fällt mir auf, dass ich nur Käfer als Mitreisende zu haben scheine. Fiese untersetzte Haufen mit spindeldürren, in die Luft greifenden Gliedmaßen. Die Glücklichen unter ihnen finden auf einem Sitz oder auf dem Fußboden liegen gebliebene Zeitungen, die sie abfällig grunzend lesen, während vor den Fenstern Industrieanlagen, Baustellen und Straßen vorbeifliegen, auf denen Autos Wohnmobile umkurven wie träge treibende Fäkalien. So vergeht meine letzte Zugfahrt, eine hart geschnittene Collage über den Stand der Dinge. Ich schaue mich um und frage mich, wie meine Mitreisenden dieses Leben ertragen. Wie schaffen sie es, jeden Morgen wieder von vorne zu beginnen, und warum kann ich das nicht? Gibt es ein Geheimnis des Lebens, das seine konkreten Umstände irrelevant werden lässt? Das Erwartungen kastriert und das Alltägliche erträglich macht? Oder haben sie sich einfach daran gewöhnt, vergewaltigt zu werden?
Ich befinde: Diese Fahrt führt nur vor, wie man den Aufenthalt im Limbus nicht gestalten sollte. Wenn es mich je nach Behaglichkeit verlangt hat, dann jetzt. Schlagartig geht mir auf: Weil im Limbus kein Begriff von Zukunft existiert, ist er ein naturgemäß kapitalistischer Raum. Vielleicht sogar der perfekte kapitalistische Raum, ganz und gar organisch gewachsen. Ein solcher Limbus hat keinen Etat, keine Budgetgrenze. Er ist die pure Verschwendung. Ich hätte alle Sandwiches kaufen und mir dann das Beste aussuchen sollen. Ich hätte die Unwürdigkeit des Frühbuchertarifs nicht über mich ergehen lassen müssen.
Und in diesem Moment begreife ich die Schönheit des Geldes: Es hebt das Leben in den Himmel, über die tief hängenden Wolken aller Geschäftsbedingungen. Es lässt keine Bedingungen zu, es kennt nur das Haben. Der vollflexible Luxustarif sieht keine Messerstechereien vor. Und auch wenn man dafür akzeptieren muss, schamlos ausgeraubt zu werden – kann es in einem Limbus überhaupt so etwas wie Diebstahl geben? Wenn der Schwebezustand des Limbus keine Zukunft kennt, dann bringt dieser Diebstahl auch niemanden um künftige Gewinne. Solange nicht gleich die Bank gestohlen wird, kann Diebstahl hier also gar nicht existieren.
Eine Offenbarung kündigt sich an.
Ich habe mich immer gefragt, warum die Gesetzgebung es zulässt, dass Firmen kleine Diebstähle an Individuen begehen – aber nicht umgekehrt. Und warum Regierungen keine Visionen zukünftiger Gesellschaften mehr entwerfen, warum alle Versprechungen immer nur mehr vom Guten und weniger vom Schlechten verheißen.
Der Kapitalismus ist ein Limbus.
Er ist nicht Struktur, sondern Anti-Struktur. Es treibt ihn nicht hin zu einem bestimmbaren Ziel, nein, er verharrt schwebend über einer unendlichen Gegenwart und hält seinen Kescher in den Strom hilfloser menschlicher Impulse. Er baut keine sichere Zukunft, hinterlässt keine großartigen Bauwerke und bereitet niemanden auf den vor ihm liegenden Weg vor. Warum auch? Wir durchschreiten kein zivilisiertes Zeitalter, wir treiben Wasser tretend zwischen Windows und Mac hin und her.
Diese Offenbarung ist ein ironischer Seitenhieb der
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