Das Buch Gabriel: Roman
Enthusiasmen. Indem ich, dem Tod ins Auge blickend, die reine Selbstvergessenheit suche und dem Kult des freien Marktes entfliehe, bin ich selbst zum freien Markt geworden.
Whoosh – die Erkenntnis erwischt mich kalt.
Ich sehe mich um, und plötzlich ist alles wie im Traum. Ich bin Ebenezer Scrooge auf einer moralischen Tour durch die Kultur der Gegenwart. Sogar meine Landsleute im Zug sind bloß perfekte Produkte, korpulente Käfer, die aus Einlagerungsbeuteln für Zucker und Fett bestehen und für die Bedienung von Geldautomaten und Ladengeschäften gerade ausreichend stabile Gliedmaßen haben – wenn nicht, dann sind sie hohlwangig und sphinxgleich und haben Siebenschläferaugen, die vor Unzufriedenheit glimmen. 13
Ich muss einen Limbus höherer Ordnung anstreben. Einen, der nach Hotelseife riecht. Einen zwischenweltlichen Zustand, in dem sich junge Schweizer um mich kümmern. Ich brauche einen Abend, der herrlicher und prunkvoller ist als alles seit dem Fall von Rom – das erbitte ich mir jetzt, als neugeborener Kapitalist, der durchs Fenster hinaus in die Nacht schaut. Herbei, ihr Enthusiasmen, und offenbart diesen Wunsch.
Und lasst uns gemeinsam die Pracht seiner Ankunft bewundern!
Mitten in meine Träumerei hinein ruft ein Roboter an, um mich daran zu erinnern, dass ich Nachrichten auf meiner Mailbox habe. Aber in Zeiten wie diesen hat die Sache einen Haken: Das Guthaben auf meiner Telefonkarte ist niedrig, und wenn ich Vodafone anrufe, um per Karte zu zahlen, sperrt die Lloyds-Bank sofort mein Konto. Die Handykarte aufzuladen könnte nämlich ein Betrugsversuch sein, wissen Sie. Und die Kontosperre werde ich nicht mehr aufheben können, weil mein Handyguthaben aufgebraucht sein wird, während noch die automatisierten Wahlmenüs von Lloyds durchlaufen. Und ich werde kein Bargeld mehr abheben können, um mir in einem Laden eine neue Telefonkarte zu kaufen, weil die Sperre so lange aktiv bleibt, bis ich Lloyds anrufe. Ich werde noch nicht mal mehr Vodafone anrufen können – weil man mit denen ohne Guthaben nämlich nicht über sein Guthaben sprechen darf.
Das Handy hängt irgendwo zwischen Leben und Tod fest. Der Markt zwingt es in diesen Zustand hinein. Was für eine Symbolkraft. Wie ähnlich wir uns sind. Plötzlich ist Limbus der Schlüssel zum Verständnis der modernen Welt. Schnell beschließe ich Folgendes: Ich werde mir eine einzige Nachricht anhören und das verbleibende Guthaben darauf verwenden, Smuts für ein Bacchanal am heutigen Abend zu gewinnen.
Ich werde die Handykarte nie mehr aufladen.
Nicht, solange ich lebe. Ha, ha.
Die erste Nachricht ist von Sarah, die bis gestern meine Freundin war:
»Ich bin’s«, sagt sie. »Nur, damit du mir nicht vorwerfen kannst, ich hätte dich nicht gewarnt: Hamish will heute Abend bei dir vorbeikommen. Er will dich umbringen, also mach bloß, was er sagt. Du musst dein Zugriffsrecht aufs Konto an die Aktionsgruppe abtreten, er hat die entsprechenden Unterlagen dabei. Nigel ist der neue Schatzmeister. Und Yaseen will deinen Text für das Flugblatt. Dem geht’s auch nicht gut, die beiden müssen morgen vor Gericht erscheinen. Ich habe ihnen gesagt, dass du bestimmt keinen Penny in der Kasse angerührt hast. Aber das ist das letzte Mal, dass ich mich für dich verbürge, Gabriel. Ich fühle mich derart bescheuert. Tun wir alle. Wir haben dich für so feinfühlig gehalten – dabei ist es nichts anderes als Schwäche. Bürgerliche Trägheit. Um die Welt kaputt zu machen, brauchen die Profitgeier nur ein paar mehr Leute wie dich, Leute, die nur labern und nichts tun. Egal. Ruf bloß nicht zurück. Falls du was für Douglas und Fay gefunden hast, gib’s einfach Yaseen.«
Ende der Nachricht. Ach ja. Wie weit weg mein altes Leben schon ist. So entfernt, als stünde ich ihm mit den Stöpseln eines iPods in den Ohren gegenüber. Die politischen Gewissheiten unserer Aktionsgruppe wurden im Laufe eines einzigen Tages auf den Kopf gestellt – und haben sich allein auf dieser Zugreise erneut verkehrt. Und du, liebe revolutionäre Sarah, machst dir immer noch einen Kopf wegen eines Geschenks für Douglas und Fay und ihre Dinnerparty in Fulham. Aber mich nennst du bürgerlich!
Ich lehne mich zurück und denke über unsere Beziehung nach, die hier ihr wahres Gesicht zeigt. Sie werden wissen, dass eine Romanze anfängt, wenn man mit einem Lasso etwas Fliegendes aus der Luft fängt. Sobald die Schlinge fest sitzt, kann dieses Etwas herunterfallen und als Gewicht
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