Das Buch Gabriel: Roman
einiges mehr. Mit der weichen Muskulatur eines jungen Hundes und mit Augen und Wimpern, die jeden dazu verleiteten, ihn anfassen und sich um ihn kümmern zu wollen, platzte er in sein Leben. Während die Sommer unserer Jugend an uns vorbeizogen, stattete die Natur mit ihren Meißeln Smuts einen Besuch ab. Skrupellos wurden seine Hüften schmaler gemacht, und ihm wuchsen Schultern und Arme wie Scheren eines kräftigen Krebses. In scharfem Gegensatz dazu zollte die Natur mir so gut wie keinerlei Aufmerksamkeit. Wie zur Rechtfertigung traten meine Augen hervor, während der Rest meiner schlaksigen Gestalt nach hinten kippte, wie weggeblasen von einer Explosion. Ich hatte keine andere Wahl, als charakterliche Absonderlichkeiten auszubilden und ängstlich aus der hinter ihnen stehenden Düsternis hervorzuäugen. Währenddessen räkelte Smuts sich in der Sonne, ausgestattet mit jenem Ebenmaß, das unausgesprochen wie ein Reisepass in die Gesellschaft funktioniert. Nicht, dass er zugerichtet wurde wie ein harter, zorniger Mann, nein, er wurde zu einem Gütesiegel der Natur gestreckt und geschliffen, er war ein Vorführexemplar, wie ein Kolibri oder ein Sommertag. Die sanfte Rauchigkeit seiner Stimme verkündete in unverblümten angelsächsischen Worten griffige Ideen, und jede seiner Bewegungen, sogar das Schlucken, ließ Muskelstränge über seinen Körper pflügen. Im Laufe unserer Adoleszenz merkte ich, wie die Mädchen in seiner Gegenwart schwach wurden. Sie verblödeten und vergaßen sich. Bei mir hingegen erinnerten sie sich – entweder an sich selbst oder, noch schlimmer, an die hehren Ziele, die sie sich gesteckt hatten; an mir erprobten sie ihre brutalen Launenhaftigkeiten. Vermutlich war das der Grund, warum sich bei mir die Nervenstränge nach innen zurückzogen, während seine hinausschossen auf die Haut, wo ihnen dann Finger und Zungen in hilfloser Obsession verfielen. Smuts beschwor durch sein bloßes Sein Intimität herauf. Anständige Mädchen taten Dinge für ihn, die Prostituierte verweigern würden.
Trotz alledem machte er nie einen Unterschied zwischen uns, was mir Auftrieb gab. Er teilte die Intimitäten mit mir, als ob sie mit angeborener Selbstverständlichkeit auch in mein Leben gehörten. Und so wurden sie tatsächlich ein Teil von mir, durch ihn, und gaben meinen kochenden Sinnen Futter.
Ich glaube, Smuts blickte sogar zu mir auf. Seine Stimmung konnte so schnell umschlagen, dass seine Gefühle oft wie vor den Kopf gestoßen auf der Strecke blieben; und weil seine Sinne nach außen gekrempelt waren, um dort gestreichelt zu werden, trat er nicht allzu oft in Kontakt mit diesem inneren Gefühlsleben. Ich glaube, meine zerebrale Analyse der Dinge war für ihn gleichzeitig nützlich wie beruhigend. Deswegen, denke ich, sind wir Freunde: Wir haben beide eine Eigenschaft, ohne die der andere etwas aussichtslos dastünde.
Und deshalb: Auf zu einem letzten Drink – mit Smuts. 14
Nach fünf Mal Klingeln geht er an sein Handy:
»Yo.«
»Smutty«, sage ich, »Gabriel!«
»Wer nennt mich da Smutty?«
»Ich bin’s, Gabriel.«
»Moment mal – was?«
»Gabriel. Brockwell.«
»Verdammte Scheiße. Es ist zehn vor sechs.«
»Ähm – wo bist du?«
»Tokio.«
»Oh. Also, Smuts …«
Die Leitung ist tot.
Ach, Smuts.
Smuts, Smuts. Hm.
6
Sieht ganz so aus, als wäre der Limbus nicht immun gegen Enttäuschung. 15 Ich vermute, die Märkte sind mit derselben Erkenntnis konfrontiert. Die Kultur auch. Aus dem Inneren eines Limbus betrachtet, kann alles rosarot aussehen.
Den Bahnhof King’s Cross, in den wir holpernd einfahren, finde ich von Menschen zweier Rassen bevölkert vor: den Betrunkenen und den Verängstigten. Menschenmassen werden von einem in den nächsten Zug umgefüllt, bellend kommt ihr Echo vom hohen Glasdach zurück, und viele Züge fahren ohne Schaffner los, vermutlich weil die sich nicht trauen. Aber ich denke darüber nach, was für ein großartiger Anblick das ist: die Gesellschaft in ihrem ganz eigenen Limbus, in ihrer ganz eigenen Kontingenz, wie sie sich ihrer falschen Bestimmung entzieht und sich auf den Weg macht zu den ihr versprochenen starken Emotionen. Weil sie es sich wert ist, ha, ha. Mich drückt einzig die Sorge, dass es ein hässlicher Niedergang ist, eine Dekadenz ohne Mentoren und ohne Finesse, die ihr Entgelt in Erbrochenem und Schuldenbergen zahlt.
Möglicherweise werden wir darüber noch etwas nachdenken müssen, zu gegebener Zeit am Abend, bei einem Glas
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