Das Buch Gabriel: Roman
Wein.
Zunächst mal wächst der Stress. Wahrscheinlich wird meine Wohnung von zwei Seiten in die Zange genommen, hier die Aktionsgruppe, dort mein Vater. Trotzdem: Nach dem Rückschlag mit Smuts muss ich mich neu sortieren, und in der Wohnung wohne ich nun mal – oder habe ich mal gewohnt.
Nachdem ich beschlossen habe, per Taxi einen Blitzüberfall zu starten, schicken mir die spitzbübischen Enthusiasmen einen Fahrer der Spezies Weißhaariger Londoner Taximann, der findet, dass sich in der Zeit-Entfernung-Gleichung des Taxameters die Variable Zeit mehr auszahlt. Und deswegen wartet er an jeder Ampel darauf, dass sie rot wird. Es dauert also eine Weile, bis wir schleichend in meine Straße einbiegen. Es gäbe vermutlich einiges zu sagen über diese Ecke von Nordlondon, aber für die Geschichte ist das nicht mehr wichtig. Mit meinen Mitbewohnern Alan und Evelyn teilte ich mir hier eines der vielen viktorianischen Reihenhäuser. Im Taxi tuckere ich jetzt daran vorbei, wachsam halte ich Ausschau nach Anzeichen von Stress. Aber alles wirkt ruhig. Durch das Fenster im ersten Stock flackert der Fernseher. Ich lasse das Taxi an der Ecke warten, schließe das Haus auf und sammle unterm Briefkasten die Werbezettel ein, obwohl ich das als theoretisch Toter nicht müsste. In meinen letzten Stunden lege ich Manieren an den Tag. Das Licht überm Treppenabsatz schafft es nicht die ganze Treppe hinauf.
Im Hintergrund höre ich aus dem Fernseher eine Frauenstimme:
»Ich bin Hausfrau und Mutter.«
»Und haben Sie Kinder?«, poltert der Moderator.
»Ja, drei.«
»Drei wundervolle Kinder! Und was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Hausfrau.«
Ich gehe rein, nehme mir ein paar Gramm Koks, ein bisschen Hasch und MDMA aus Alans Vorräten und lege ihm Geld hin. Im Bad bespritze ich mich aus einem Impuls heraus mit dem Parfüm, das da steht.
Es hüllt mich in einen Zitruspanzer.
Erstaunt halte ich inne.
Guerlain steht auf dem Flakon.
Jicky .
Die pure Dekadenz. Dann werde ich aus meiner Entrücktheit gerissen, weil jemand gegen die Haustür hämmert.
»Brockwell.« Es ist Hamish. »Komm raus! Wenn du die Kasse nicht angerührt hast, tun wir dir auch nichts …«
Mein Herz beginnt zu rasen, gleichzeitig frage ich mich, wie dämlich er eigentlich ist, wenn er denkt, ich mache ihm auf. 16 Bevor ich überlege, was zu tun ist, vibriert mein Handy. Eine SMS. Ein Warnhinweis wegen des Guthabens. Plötzlich schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass Smuts vielleicht gar nicht aufgelegt hat. Vielleicht war einfach nur mein Guthaben alle – was würde besser zur heutigen Zeit passen –, und es war der Netzanbieter, der ungeachtet des Vermögens, um das er mich im Laufe der Jahre erleichtert hat, diesen letzten überaus wichtigen Anruf meines Lebens beendet hat.
Zwischen Hamishs Gepolter und dem blutsaugenden Handy tut sich in mir ein wahrnehmungsintensiver Raum auf. Und nur einen Augenblick später empfange ich in einer mich überflutenden Offenbarung die Antwort der Nacht.
Ich kritzele Smuts Nummer hinten auf ein Streichholzheftchen, dann schmeiße ich das Handy auf den Boden und trampele darauf herum. Es gibt ein befriedigend knackendes Geräusch von sich, wie eine dicke Schnecke, und erfreulicherweise bleibt in einer Ecke des Displays ein gespenstischer Schatten des Vodafone-Logos zurück.
Eine Totenmaske.
Am Laptop logge ich mich ins Konto der Aktionsgruppe ein, finde knapp fünftausend Pfund vor und überweise sie auf mein Privatkonto. In den Augen der Gruppe bin ich ein Verräter, weswegen die Überlegung nur vernünftig ist, dass das Geld in meinen Untergang gut angelegt ist. Und falls ich heute Nacht zufällig auf die Mächte der Finsternis stoße, kann ich ihnen mit fünftausend Tacken kräftig einen mitgeben.
Danach gehe ich auf die Website von Japan Airlines.
Ich ziehe mir das T-Shirt mit Munchs Schrei und meinen Armeewintermantel an, packe das Parfüm, meinen Pass und eine Wechselgarnitur ein und beschließe, den Aufenthalt im Limbus über Nacht am Flughafen weiter auszukosten – und zwar nicht am nächsten Terminal, sondern am übernächsten.
Dann nehme ich meinen Laptop, wiege ihn prüfend in den Händen, hebe ihn über den Kopf und werfe ihn auf den Boden – dieses Vakuum des Lebens, diesen schwachköpfigen Gelehrten, diese jammernde, unterwürfige, klauende Latino-Haushaltshilfe, diese Wichswerkstatt. Ich kicke das Wrack quer über den Fußboden. Die Tür öffnet sich und mein Mitbewohner Alan kommt
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