Das Buch Gabriel: Roman
ihrer Tränen anderen Mädchen unter den Rock sehen. Die Japaner mögen Tränen. Als ich mich aufs Kissen lege, überkommen mich schnell fieberhafte Träume.
In dem einen scheine ich in einem Club auf der Bühne zu sein, kurz vor einem Auftritt. Der Vorhang öffnet sich, dahinter ist Schweigen, alles rottet sich leise zusammen, wie in der Dunkelheit herumhuschende Ratten. Plötzlich legt sich orangerotes Scheinwerferlicht auf die Köpfe. Ich sitze im Schneidersatz da und habe eine Papiertüte im Schoß. Und ich sage:
»Es fing an, als jemand die Idee hatte, uns Dinge zu verkaufen, die wir nicht brauchen.«
Die Menge atmet scharf ein.
»Mit jedem unnütz erworbenen Gegenstand«, sage ich, »fühlten die Verbraucher sich größer.«
Wieder ein kollektives Aufkeuchen, dann ein Ssssch .
» Weil Sie es sich wert sind. Seitdem sind die Geschäftsleute unterwegs und sagen solche Sachen. Doch selbst sie hätten nicht gedacht, dass eine Zivilisation hiernach keine weiteren Aussagen mehr treffen kann – dass damit jede Verankerung im Fortschritt gekappt ist und das Eingeständnis gemacht wird: Es gibt nichts mehr, was man noch sein oder tun kann. Die Weiterentwicklung der Menschheit ist schlicht und ergreifend kein gewinnträchtiges Unterfangen.
Ein größerer Held als Batman kam nicht um die Ecke.
Wir waren kein zweites Mal auf dem Mond.
Elvis blieb tot.
Uns bleibt nur, für den Rest unseres Lebens auf Bewährung und überwacht wie Affen im Zoo auf den Strich zu gehen. Denn mehr, meine Lieben, sind wir eindeutig nicht wert.«
Ich halte inne, damit die Wirkung meiner Ansprache verebben kann. Jede Offenbarung hat hier und da ein Keuchen, ein scharfes Einatmen hervorgebracht, was sich jetzt zu einer gewaltigen, zischend brechenden und sich murmelnd wie Kiesel im Sog der abfließenden Flut wieder zurückziehenden Welle bündelt.
Darauf abgestimmt wird meine Stimme leise, bricht sogar hin und wieder: »Alles ist vollbracht. Was zu tun übrig bleibt, letzte Freunde, ist, zu zerstören.«
Die Papiertüte enthält eine Pistole. In einer einzigen fließenden Bewegung ziehe ich sie heraus und schieße mir ins Ohr.
Ich schrecke aus dem Schlaf. Ein Gefühl der Gewissheit durchfährt mich: Das war mein letzter Schlaf, mein letzter Traum. Im Zimmer schnurrt ein Ventilator. Draußen wird es langsam Nacht. Die Sorgen überfallen mich: Wie werde ich sterben? Wie werde ich Smuts die Nachricht beibringen? Rausch ist der Schlüssel. Unser Strahlenkranz muss so leuchtend und breit sein, dass er uns immun macht gegen jede äußere Vernunft. 18
Ich stehe auf und ziehe eine Line auf dem Waschtisch im Badezimmer. Als das Koks sich an seine frostige Arbeit macht, schießen mir weitere entscheidende Bedingungen für heute Abend durch den Kopf: zum Beispiel, dass das ganze Unterfangen an keiner Stelle mit Profanität in Kontakt kommen darf. Ebenso wenig darf ich mich auf Verpflichtungen, Verwirrtheiten und Langeweile einlassen oder mein Hirn mit Routinen oder unnützen Dingen beschäftigen.
Das müssen unverbrüchliche Regeln sein.
Ich spritze mir Wasser ins Gesicht, trockne mich ab und schmeiße das Handtuch dann auf den Boden, um der Umwelt zu schaden. Als ich meine Handgelenke und Schläfen mit Jicky benetze, erstrahle ich in dekadentem Glanz. Whoosh! Zwei kleine Wodkas aus der Minibar scheine ich mir auch noch hinter die Binde zu gießen, was mir erst auffällt, als die Flaschen leer sind. Und weil ein Abend mit Smuts unberechenbar sein kann, stecke ich die verbleibenden Miniatur-Fläschchen in meinen Mantel, wobei ich feststelle, dass im Wandschrank sogar noch eine normalgroße Rotweinflasche steht, ein edler Pauillac.
Bestimmt etwas für Smuts’ wählerischen Gaumen.
Meine Haare haben sich während meines Nickerchens zu einer Art Haifischflosse umgeformt, und so bahne ich mir aerodynamisch einen Weg durch die Lobby und nach draußen zu einem wartenden Taxi, in dem ich krumm sitzen muss, damit die Frisur nicht kaputt geht.
Und damit, mein Freund, beginnt unsere Nacht der Nächte.
Das Restaurant San Toropez belegt die dritte Etage eines Bürogebäudes in Shinjuku, einem geldverseuchten Geschäftsviertel von Tokio. Als ich aus dem Fahrstuhl trete, befinde ich mich in einem weitläufigen, offen gehaltenen Speisesaal, der eher landschaftsarchitektonisch gestaltet denn möbliert ist. Lichtsäulen strahlen von oben auf niedrige Tische. In ihrem Minimalismus, ihrer Leere und Stille eine luxuriöse Räumlichkeit. Welch majestätische
Weitere Kostenlose Bücher