Das Buch Gabriel: Roman
herein.
»Wie ich sehe, ist die Depression überstanden.« Er hält mich fest und sieht mich fragend an. »Wann hast du eigentlich zum letzten Mal geschlafen? Weißt du eigentlich, was du da tust? Ist es so eine Whoosh-Sache? Du hast diesen herablassenden Pädagogen-Troubadour-Blick.«
Ich schiebe mich an Alan vorbei, gehe über die Hintertreppe runter zur Straße, dann um die Ecke zum wartenden Taxi. Hamish hämmert noch immer gegen die Tür, als es an meinem Haus vorbeibrummt und Abgase in die Nacht bläst. Ich drücke mich tief in den Rücksitz. Licht schimmert in den Fenstern, hinter denen ich einst gewohnt habe. Obwohl es ein englischer Haushalt des frühen 21. Jahrhunderts ist – also: ein trisexueller Haushalt entwurzelter Narzissten, in dem allein in den zwanzig Minuten, die ich jetzt da war, Bargeld und Waren im Wert von vierhundert Pfund den Besitzer gewechselt haben, wobei gegen nicht weniger als fünf Gesetze verstoßen wurde –, wühlt mich der Anblick des kleiner werdenden Hauses auf. Ich sehe durchs Taxifenster und stelle fest, dass von mir nicht die geringste Spur zurückbleibt. Nicht mal mein Turner-Prize-Kunstwerk habe ich realisiert – einen riesigen Einkaufswagen, der auf die Seite gestürzt quer über der Themse liegen sollte. Ich sehe nach draußen auf eine Welt, die bald nicht mehr wissen wird, dass ich sie je passiert habe. Starbucks-Servietten taumeln und jagen sich im Wind. Lackaffen stolzieren, Typen tummeln sich, Liebende grinsen, als hätten sie aufgeweckte dänische Kinder vor sich, und schlendern mit gesenktem Kopf an Pubs vorbei, aus denen Bierdunst quillt, durch Pizzagerüche und die nicht mehr so stark stinkende Kotze von gestern; und da, wo die Lichter besonders grell sind, schnattern und kichern EU-Teenager wie Wäschekörbe voller Socken, jeder von ihnen exakt hundertfünfundsechzig Zentimeter groß, von Brüssel genehmigt, und ohne die Widerlinge, Wüstlinge und Wichser im Schatten zu bemerken.
Niemand sieht mich vorbeifahren. Ich will nichts zu tun haben mit ihrem Stumpfsinn. Ich lebe jetzt jenseits von Stumpfsinn und Verblendung, wie eine Seele aus dem Limbus schaue ich nur mal kurz vorbei. Das Rappeln und Tuckern des Taxis, sein Schaukeln und Stampfen und seine durch die Nacht gleitende schwarze Gestalt machen aus ihm einen Phaeton, einen Leichenwagen, gezogen von einem mit schwarzen Kopffedern geschmückten stürmischen Gespann, das sich schnaubend und tänzelnd seinen Weg bahnt durch die nichts ahnenden Trauernden. Also dann, lebe wohl, ökologischer Fußabdruck, adieu, Royal Mail, gehabt euch wohl, ihr Bierseligen, ihr Sandwiches mit Kresse und Ei, Posh und Becks. Cheerio, meine liebe, geliebte Stadt. Kleinere Existenzen als deine werden kommen und gehen, erblühen und wieder verwelken.
Doch diese einem mondbeschienenen Kirchhof gleichende Nacht – diese Nacht gehört mir.
TOKIO
7
Von einer Ecke des Sitzes modelliert stehen mir die Haare schrägsteil auf dem Kopf wie die sterbende Welle des Kapitalismus. Da der Flug den größten Teil der Aktionsgruppenkasse verschlungen hat, beschließe ich, diese von den kostenintensiven Enthusiasmen gestylte Frisur für den letzten Tag meines Lebens genau so zu lassen.
Andere Aspekte sind weniger erquicklich. Obwohl ich den Flug mit weniger als einem Gramm Kokain über die Bühne gebracht habe 17 , hat die trockene Luft in meinem Hals Kreidefelsen gebildet, die meine Nase von hinten verstopfen. Und es gab keine Schokoladenmilch in der Business Class, ein Skandal im Wert von fast dreitausend Pfund. Stattdessen haben Aal und Champagner das Blut aus meiner Haut in den Magen abgezogen, weswegen ich ganz durchscheinend bin. Im Licht der Flugzeugklobeleuchtung – ein Licht der Wahrheit, geeicht auf Demütigung und Unterwerfung – bin ich so zu einem Modell aus dem Modellbaukasten geworden: der Sichtbare Kapitalist.
Erfreulicher dagegen: Meine Treibstoffe befinden sich sicher verwahrt in meiner Hosentasche. Davon ausgehend, dass die Welt anders funktioniert als in unseren entrationalisierten Breitengraden, trage ich sie an nächstliegender Stelle bei mir – für so blöd hält mich niemand.
Und so erreicht mein Leichenzug Tokio, diese wie ein Schlafanzug mit Kätzchen- und Monsterbildern bedruckte Megastadt am Meer.
Ein Ort, an dem ich groß bin und ein Fremder.
Es ist helllichter Tag, und die Götter sind mit mir. Ich habe Geld und Limbus-Treibstoffe, und wo Smuts ist, sind vortreffliche Speisen und Weine nie weit. Mein
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