Das Buch Gabriel: Roman
Vorratskammer. Auf dem Weg an der Bar vorbei nehmen wir noch ein Rotweinglas mit und durchqueren den Speisesaal. Am Ende einer Treppe nach oben befindet sich ein Korridor mit den Toiletten, wo ein Bediensteter kniet und Türklinken poliert. Als wir vorbeigehen, steht er auf und verbeugt sich. Smuts schließt die letzte Tür am Ende des Ganges auf, die sich in einen kubischen Raum ohne Fenster öffnet. Die Decke ist weiß, die Wände sind weiß, und der Boden ist weiß, weder glänzend noch matt. Die Türklinke ist weiß, die Tür ist weiß. In der Mitte des Raums, wo verborgene Lampen keinen stärkeren Schatten werfen als ein unbestimmt gräuliches Milchweiß, steht ein weißer Tisch mit zwei weißen Stühlen.
»Das Weiße Zimmer«, flüstert Smuts.
Whoosh. Das Weiß des Flaschenetiketts wird zum Loch, die Buchstaben schweben frei im Raum; und als der schwarze Wein heraussprudelt, malt er ins innere Rund des Gefäßes blutrote Ränder, die in funkelnden Farben quer über den Tisch blitzen. Smuts drückt die Nase an das Glas:
»Also, warum bist du hier?«
»Dich besuchen.«
Sein Gesichtsausdruck wird düster.
»Trink mit mir, Smuts.«
»Hast du ein Restaurant geerbt?«
»Nein.«
»Dann kann ich nicht. Putain, irgendwann müssen wir uns der Ernsthaftigkeit des Lebens stellen. Müssen auch mal was verschieben. Wir sind erwachsen.«
Einen Augenblick lang betrachte ich den Wein. »Willst du ’ne Line?«
»Was?« Er zieht die Stirn in Falten. »Wo hast du denn jetzt Lines her?«
»Von zu Hause mitgebracht.«
»Scheiße, Mann.« Er weicht zurück. »Das geht aber deutlich über das scharlachrote Siegel hinaus, meine Fresse. Du hast Stoff durch Narita Airport geschleust? In Japan wirst du dafür ohne Verfahren weggeschlossen, du verschwindest einfach.« Er schüttelt den Kopf, zischt leise einige Flüche und beugt sich schließlich zu mir, das Glas fest in der Hand.
»Siegel, Siegel – was hast du wirklich vor?«
Für ein Geständnis ist es noch zu früh. Ein Geheimnis vor ihm zu haben ist zwar unangenehm, aber wenn ich noch ein paar Stunden überleben will, brauche ich einen turmhoch erhabenen Nimbus. Ich zucke mit den Schultern und deute mit einem Kopfnicken auf das Glas: »Darf ich eigentlich probieren?«
Sein Kiefer zuckt von rechts nach links. An seiner düsteren Miene ändert sich nichts.
»Sowieso: ganz schön viel Gewese um einen australischen Wein.« Ich studiere das Etikett. »Der ist noch nicht mal fünf Jahre alt.«
»Halt’s Maul. Du hast keine Ahnung. Habe ich schon mal Didier Le Basque erwähnt? Meinen Förderer? Er ist derjenige, der diesen Wein bezieht. Er könnte dir einiges über den Hersteller erzählen. Eine unglaubliche Geschichte: ein Mann, der den dekadenten Lifestyle für den Versuch aufgibt, eine Rebe zu züchten, die die Antwort auf das Leben birgt. Ein Typ, der eventuell das Geheimnis des Lebens entdeckt hat.«
»Ach ja? Und zwar? Eine Ideologie? Ein Produkt?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, eher so was wie eine Pointe.«
»Hm. Und kennst du sie?«
»Nein. Didier meint, man muss ihn selbst fragen. Aber schon die Geschichte drumrum, über den Moment, in dem er geschnallt hat, um was es im Leben eigentlich geht, ist großartig. Ich weiß nur so viel: In den späten Achtzigern wurde ein verlassener Maserati Ghibli Spyder in einer Kurve nahe Monte Carlo gefunden. Nicht weit von der Stelle, wo Prinzessin Grace gestorben ist. Bin mir ziemlich sicher, dass der Baske von einem Spyder gesprochen hat. Man konnte den Wagen bis zu zwei Bikini-Models aus Paris zurückverfolgen, zwei Schwestern – und zu einem Engländer namens Pike, einem ganz Wilden, der gesehen worden war, wie er eine von beiden chauffierte. Man muss sich das mal überlegen: Wein wird immer in kleinen Schlucken beurteilt. Es geht seit eh und je um die Wein probe . Ums Bouquet, darum, wie er im Glas aussieht. Hinterher spuckt man ihn ja sogar aus. Man spuckt ihn aus! Aber was passiert nach einem Liter? Was für eine Wirkung entfaltet sich über die Dauer eines Abends gesehen? Der Baske formuliert es so: Man kann das Meer vom Strand aus bewundern – aber um es zu lieben, muss man hinausschwimmen. Pike wusste das. Trank erlesene europäische Weine bis zur Besinnungslosigkeit, protokollierte ihr Verhalten, begegnete ihren Göttern.«
Dem schwarzen Wein entsteigen lockende Gasfinger.
»Gut, das Auto steht also verlassen da. Bin ziemlich sicher, dass Didi gesagt hat, es war ein Spyder. Niemand wusste, was passiert war.
Weitere Kostenlose Bücher