Das Buch Gabriel: Roman
Nimbus in Scherben vor uns liegt. 23 Und wie auch der menschliche Geist von Zeit zu Zeit die Außenbedingungen abtastet, um seinen Metaphernschatz auf den neuesten Stand zu bringen, so hat sich dieser als schweifender Blick über Sonnenliegen anhebende Limbus in schlechten Sex in einem Travelodge-Kettenhotel verwandelt. Scheinbar haben alle Dinge eine gewisse Lebensdauer in Unschuld, bevor sie aufs Entsetzen zusteuern. Die ganze Schöpfung ist wie die erste in der Schule getöpferte Tonvase. Was soll man sagen? Das ist die Natur, diese grausame, durchtriebene Kackwurst.
Sehnsüchtig erinnere ich mich früherer Zeiten.
»Aber ich bin doch viel schlechter dran als du«, sage ich. »Mein Vergehen steckt noch in meiner Tasche, und als Tourist komme ich ziemlich wahrscheinlich nicht auf Kaution raus. Wohingegen deine einzige nachweisbare Straftat ein Quickie in einem Aquarium ist. Zu Hause würden sie dich auf Kaution laufen lassen, und du wärst dein Lebtag lang eine Legende.«
»Völlig unerheblich. Hier können sie dich wochenlang ohne Anklage einbuchten. In der Zwischenzeit kriegt mich dann das Sardinengesicht wegen Vergiftung und sonst noch was dran. Wegen Keiko kriege ich aber im Knast sowieso ein Schwert ins Auge.« Smuts wirft mir einen fiesen Blick zu: »Und dabei weiß ich immer noch nicht, was zum Teufel du hier eigentlich willst. Heute Morgen hatte ich alles noch unter Kontrolle.«
Was für ein trostloser Moment. Noch nie hat ein Weggefährte die Wahrheit mehr verdient gehabt. Doch im Grau des anbrechenden Tages erscheint mein Plan völlig idiotisch. Ich stehe vor der schwierigsten Wahl, die man als Freund treffen kann: brutal sein oder dem Freund nach dem Mund reden. Brutal zu sein würde bedeuten, ihn auf meinen Limbus-Zustand hinzuweisen, was in diesem Kontext reichlich absurd wirken und Smuts’ sturen Schädel dazu bringen würde, ihn kaputt zu machen. Ich muss den Limbus vor dem Absurden beschützen, ihn vor allem bewahren, was ihn zerfressen könnte – er ist alles, was mir bleibt, und seine Eigendynamik wird von Stunde zu Stunde größer. Todeswünsche wie meiner können sich selbstständig machen, sie können gleich zu Beginn einen Schalter umlegen, eine Lawine des Schicksals lostreten und es unmöglich machen, Entscheidungen zu steuern oder zu revidieren.
Gründliches Nachdenken ist vonnöten. Mein Schicksalsschema taugt nichts mehr. Aber ich bin mir in diesem Moment auch bewusst, dass Smuts mich ansieht und auf eine Antwort wartet.
»Ich wollte nur was trinken gehen mit dir«, sage ich schließlich.
»Was trinken ?« Sein Mund klappt auf. »Du wolltest einfach mal in Tokio aus dem Flugzeug steigen und was trinken gehen? Echt, Mann …« – sein Kopf kippt vornüber – »Mann, Putain.«
Ein Beamter kommt, kettet uns voneinander los und führt Smuts einen langen Flur hinunter, am Verhörschreibtisch vorbei. Smuts dreht sich nicht nach mir um. Ich sehe, wie er sich in seiner glänzend nassen Hose mit pappigem Gang entfernt und höre ihn weit hinten im Flur murmeln. »Was trinken! Tss.«
Mein Körper krümmt sich zu einem Fötus. So viel zum Thema Enthusiasmen. Meine Limbus-Zwischenwelt hat sich zu ungestüm entwickelt, man hätte sie gar nicht erst in die Nähe anderer lassen dürfen. Dafür ist sie viel zu despotisch, ein Mahlstrom aus Chaos und Tod. Außerdem hat sie mein Schicksal quasi luftdicht besiegelt, weil sie mit ihrer Behauptung, ich hätte nichts mehr zu verlieren, Dinge hervorgelockt hat, die ich doch noch zu verlieren hatte.
Und mittlerweile verloren habe.
Nach einer Weile kommt mich ein Polizist holen. Eine drahtige ältere Frau läuft hinter ihm her. Die Übersetzerin. Hinter Brillengläsern gleitet ihr Blick von hier nach dort. Sie erklärt mir, dass ich zunächst durchsucht werde, während woanders Aussagen aufgenommen werden, um die Ereignisse der Nacht klarzustellen. Ich werde den Korridor hinuntergebracht, wobei mir auffällt, dass der Limbus im Grunde eine Form hatte – eine lange Passage auf einen Zielpunkt zu, ein sich nach vorne verjüngender Kegel, dessen Form sich allerdings etwas in Auflösung befindet, weil das Ziel plötzlich wieder außerhalb meiner Reichweite liegt. Weder die Enthusiasmen noch das Glück werden länger in ihn hineingesaugt, denn der Tod ist fürs Erste unmöglich geworden. 24
Whoosh. Es ist vorbei.
Wir betreten ein kleines Verhörzimmer. Obwohl Tisch und Stühle vorhanden sind, heißt man mich, stehen zu bleiben. Mir fällt die
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