Das Buch Gabriel: Roman
Wolken haben sich aufgetürmt. Vor ihm die blattlosen Bäume, schwarz. Auch sie sind bewegungslos. Unter ihnen liegt in einem Raum von der Größe eines Badezimmers Gerd Spechts Welt.
Die wirkliche Welt.
Ich trotte den Mehringdamm hinunter und weiß genau, was ich zu tun habe. Ob vor einen Zug oder von einer Brücke. Vergiften oder ertrinken. Egal. Nachdem ich in der Piratenburg meinen Sack abgeholt habe, setze ich mich in ein Internet-Café und tauche in hilfreiche Informationen ein, um meine Stimmung zu zementieren und die richtige Geisteshaltung zu installieren. In dieser Hinsicht ist das Netz nützlich, es spuckt sogar Hausarbeiten aus einem Uni-Seminar namens »Tod, Verwesung und Entsorgung nach der Postmoderne« aus. Unter den Arbeiten befinden sich ein paar saftige Perlen, die ich wie heilige Schriften verschlinge, ja, ich murmele sogar einige Titel vor mich hin – »Todgeburt: Einige Gedanken zugunsten der Alten und Sterbenden« und »Jenseits von Hygiene: Krematorien und Kremierung als Ausdruck retroaktiver Suizide«. In solchen und anderen Leckerbissen suhle ich mich, bis ich eine saubere Maschine bin, jenseits von Launenhaftigkeit und Begehren.
Ich weiß nicht, was ich Smuts sagen soll. Am besten rufe ich gar nicht erst an. Lieber telefoniere ich mit meinem Vater und sag ihm, dass er eine blöde Fotze ist. Denn wieder einmal scheitert meine Zukunft an den Trümmern seiner egoistischen Vergangenheit. Meine Situation ist im Arsch, weil er vor mir hier war, er und eine ganze Generation räuberischer Babys, die nie erwachsen geworden sind.
Zur Hoffnungslosigkeit gesellt sich ein Zustand, der mir sogar die Lust auf ein Getränk nimmt. Schätzungsweise eine Art Notausschalter. An den Kneipen am Mehringdamm gehe ich vorbei, ohne ein einziges Mal stehen zu bleiben, und auch bei der Currywurstbude jenseits der Yorckstraße, wo die Gäste sich mit Pommes, Wurst und Bier gegen die Kälte wappnen, mache ich nicht halt. Stattdessen nehme ich ein Taxi zum Kastanienhof, wo ich vollkommen regungslos auf meinem Bett liege und zusehe, wie sich im Himmel vor dem Fenster nichts ereignet. Die Enthusiasmen haben sich in die Karten schauen lassen. In der Tat, ein Endspiel. Sie waren es, die die Hindernisse auf dem Weg zu meinem Tod beseitigt und die im Rückblick aberwitzigen Hoffnungen zerstört haben – man nennt sie auch »letzte Hoffnungen«. Ich ziehe mein Notizbuch hervor und tue so, als würde ich schnell noch letzte Tipps und Anekdoten aus dem Limbus aufschreiben. Das Ergebnis lesen Sie gerade. Aber als ich anfange, über die Aufzeichnungen nachzudenken, spielen sie eigentlich keine Rolle mehr. Falls sie nicht unter die Räder eines Zuges kommen oder die Spree hinuntergespült werden, werden Sie – als Einziger – ein Urteil über sie fällen können.
Draußen wird es dunkel. Irgendwann klingelt mein Zimmertelefon. Ich brauche eine ganze Zeit, bis ich das Klingeln als solches identifiziert habe, und als ich dann auch noch den Hörer ausfindig gemacht habe, ist Smuts am Apparat:
»Gabriel«, flüstert er aufgeregt.
Ich setze mich auf. Meinen Taufnamen zu hören ist nur in den seltensten Fällen ein gutes Zeichen.
»Hör jetzt ganz genau zu – ich rufe vom Handy des Rechtsanwalts an. Schreib dir folgende Nummer auf, wir werden nicht mehr telefonieren können.«
»Was?«
»Sein Name ist Satou, hier kommt die Nummer.«
Hektisch taste ich unter der Bettdecke nach dem Notizblock.
»Mein Fall geht den Bach runter – aber hör zu, bei deiner Location hat der Baske angebissen wie ein Fisch. Mein ursprünglicher Plan hat zwar nicht gezogen, aber er will eins seiner eigenen Events da machen, wahrscheinlich eine dieser High-End-Chosen, vielleicht sogar ein Bankett. Der ist extrem hellhörig geworden, ha. Natürlich habe ich ihm erzählt, dass es unser Club ist und dass das nur über uns läuft – du weißt schon, der Sohn des Gründers, dekadenter Kontext und so weiter.«
»Hm – also eigentlich gibt’s an dieser Front eher schlechte Nachrichten.«
»Er ist immer auf der Suche nach besonderen Örtlichkeiten, der jagt das Einhorn, und ich habe ihm alles so weitergegeben, wie du’s mir erzählt hast, kilometerlang, Flieger direkt bis an die Tische und so weiter. So still habe ich den noch nie erlebt, total unglaublich, hört einfach nur noch zu, und hey …«
»Smuts …«
»Nein, hör zu, hör zu – wenn es um eins seiner Bankette geht, dann lässt der Yoshida innerhalb einer Sekunde über die Klinge
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