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Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
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gesehen? Da siehst du Tempelhof in den alten Zeiten. Bah, aber heute kostet allein die Erhaltung des Gebäudes die Stadt jährlich neun Millionen. Das lohnt sich nicht. Auch die Grünen wollen es nicht behalten. Wir hatten eine Volksabstimmung in Berlin, sogar Angela Merkel war für den Erhalt – aber es haben nicht genügend Leute ihre Stimme abgegeben. Deswegen wird er jetzt geschlossen. Aus und vorbei.«
    Ich nicke meiner Tasse zu und suche fieberhaft nach Worten, mit denen ich die durch meinen sinkenden Glücksstern entstandene Leere füllen könnte.
    »Ja, so ist das.« Gerd trommelt mit den Fingern auf den Tisch. »Tempelhof. Imbiss. Gerd Specht. Wenn dein Vater zu Besuch kommen möchte, soll er das ruhig tun. Wir vergessen die Vergangenheit. Was macht er denn so zur Zeit?«
    »Hm. Gute Frage. Er hat auch mal ein Café gehabt, aber das ging nicht lange gut.«
    »Bah, Essen. Hat er mal erzählt, dass wir es damit im Club auch probiert haben? Nach einer Woche waren wir kurz vorm Durchdrehen. Überall Senf auf dem Boden. Bah. Vergiss es.«
    Ach, ach. Und damit, mein posthumer Freund, steigen wir hinab in Fortunas bitterste, ironischste Krypta, ihre allertiefste Gruft, die tiefer noch als die lediglich von Hoffnungslosen bevölkerte Walhall liegt. Als es diesen Tiefpunkt erreicht, legt sich mein Herz zum Sterben nieder. Und wohlgemerkt: Auch wenn sich der Niedergang meines Herzens einem Hoffnungsverlust verdankt, ist seine Endstation ein noch viel fürchterlicherer Ort – es ist die Scham darüber, hier hereingepoltert zu sein, um diesem sanften, wehmütigen Geppetto aggressiv zu kommen.
    Ach, Gerd Specht. Sein kleiner Kiosk und seine Frau. Sein Transistorradio, aus dem Evergreens plätschern. Ein zeitloses Porträt all dessen, was eine Strickjacke wieder rehabilitiert und herzzerreißend macht.
    Ich glaube, so mies habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.
    »So.« Mit einem Ächzen erhebt er sich. »Zeit, den ehrwürdigen Imbiss sauber zu machen, das macht er nämlich nicht von alleine – haa .«
    Nach ihm winde auch ich mich vom Hocker, bereit, mich davonzuschleichen. Neue Bilder von Smuts kommen, wie er an seinem Gürtel von der Decke baumelt. Und mitten in diesem erdrückenden Ballett hält Gerd inne, sieht mich an und sagt mit leuchtenden Augen: »Oh, aber Gabriel – falls du am Freitag noch da sein solltest, lade ich dich zu einer ganz besonderen Party ein. Einer ganz unglaublichen Feier. Und mit echtem Essen. Hier im Flughafen, aber abends. Na ja, wahrscheinlich hast du was anderes vor – aber wenn du kommen magst, bist du herzlich eingeladen.«
    »Danke.« Ich schiebe ein paar Münzen über den Tisch, für meinen Kaffee.
    »Bah.« Er winkt sie weg. »Mein Beitrag zu den schönen Künsten. Ich hoffe, du dichtest immer noch? Und sag deinem Vater, er soll ruhig anrufen, wenn er will. Café-Imbiss Pego – den Namen habe ich behalten, wegen der alten Zeiten.«
    Traurig lächle ich Gerd an. »Ich hab Dad nie gefragt, wofür Pego überhaupt stand.«
    »Paul Gauguin hat manchmal so seine Bilder signiert.« Er sieht sich nach Anna um, bevor er leise fortfährt: »Es ist ein altes, englisches Seemannswort für Schwanz – haa !«
    Als ich seine Strickjacke in den Kiosk schweben sehe, frage ich mich, ob es im Leben von Gerd Specht so etwas wie eine Jugend gegeben hat, in dem Sinn, wie wir Jugend verstehen. Wirft die »besondere Party« vielleicht ein neues Licht darauf?
    Wer weiß. Ist jetzt aber auch egal. Ich bin schon fast durch die Tür, als mir die Flasche Marius einfällt, und ich drehe um, um sie ihm durch das Verkaufsfenster hinzuhalten.
    Er nimmt sie und strahlt wie ein Großvater: » Nein! Für mich? Das wäre aber nicht nötig gewesen!«
    In diesem Augenblick läuft im Radio »Annie’s Song« von John Denver an. Gerd erstarrt und schaut auf die Flasche hinunter. Ich sehe, wie sich sein Gesicht vor Emotion strafft, drehe mich um und gehe weg, hin und her geworfen von der Rührseligkeit des sentimentalsten aller Lieder.
    Eine Wolke aus Pathos und Beschämung folgt mir aus dem Gebäude. Als ich mich noch einmal umdrehe, sehe ich in meinem lächerlichen Anzug und meinem Pelz, wie Gerd mir mit schlaff herabhängender Hand vom Kiosk aus zum Abschied winkt, was mich anrührt wie minderjährige, aus einem Zug winkende Kriegsflüchtlinge.
    Dann schlüpfe ich aus dem Monolith hinaus.
    Draußen ist alles riesenhaft und aus Stein. Nichts wird sich jemals wieder bewegen. Der Himmel schweigt,

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