Das Buch Gabriel: Roman
bezwinge.
Was sicher ein Zeichen neu erwachender Hoffnung ist. Was für ein Limbus!
»Also dann.« Thomas nimmt meine Hand. »Das Programm für heute Abend ist simpel. Ich habe eine Frage und eine Bitte. Jetzt, da ich deinen Stil kenne, bin ich mir sicher, du wirst die Frage beantworten können und mir die Bitte nicht abschlagen. Aber lass uns die Dinge nicht überstürzen. Wenn du gestattest, würde ich das Mysterium gern noch für die Dauer des Abendessens bewahren.« Er pausiert, bevor er hinzufügt: »Es könnte eine lange Nacht werden.«
Wir erreichen die Spree an der Stelle, wo sie sich unter der Friedrichsstraße hindurchwälzt und die riesigen Fahnen auf dem Reichstag am Himmel flattern. Der Wagen hält neben einer Treppe, die hinunter zum Flussufer führt, an dem entlang sich eine Front von Glasfenstern zieht. Thomas’ Eintritt in das Restaurant ruft ein Kreuzfeuer an Blicken auf den Plan, und obwohl das Servicepersonal sehr beschäftigt ist, wird uns schnell ein Tisch mit allerbestem Blick zugewiesen. Am Fenster sehe ich ein Ausflugsschiff vorbeigleiten, das Gold und Quecksilber über die gallertartigen Wirbel der Spree ausgießt, und hier, bei schmeichelhafter Beleuchtung und über Leinen und Silber gebeugt, finde ich zu einer derartigen Ebene des Wohlgefühls, dass ich kurz innehalten und Sie, meinen Freund, hinzuziehen muss. Bitte treten Sie nah an diese leuchtenden Tischtücher und funkelnden Gläser heran, atmen Sie den Duft von heißem Essen und das Bouquet des Weins, leihen Sie Ihr Ohr der gepflegten Unterhaltung kultivierter Seelen und stimmen Sie mir zu:
Der Master-Limbus hat so seine Qualitäten.
Wie könnten schwache Geschöpfe wie wir sich gegen Annehmlichkeiten wehren? Und warum sollten wir? Wenn Wein, frisches Bauernbrot und geeiste Butter vor uns stehen, müssen wir uns diesen Fragen stellen – und uns auch fragen, warum Annehmlichkeiten eine solche Ausgeglichenheit mit sich bringen, wie sie es schaffen, gedanklichen Großmut und Seelenfrieden zu spenden, und warum ihr Licht sogar Hautunreinheiten verschwinden lässt, bis wir am Ende stolz wie Starlets in die Welt strahlen. Möglicherweise tatsächlich, weil wir es uns wert sind.
So ist der Master-Limbus. Sehen Sie hin, verfolgen Sie sein Wirken.
Denn plötzlich erscheint nichts an dieser Nacht mehr anstrengend. Plötzlich riecht sie nach reiner Zivilisiertheit. Wie absurd meine Ängste im Lichte dieser Wirklichkeit anmuten! Das ist der vorrangigste und begrüßenswerteste Effekt des Masters: Er stellt einen Zustand größter Gelassenheit her. Wie könnte ich mich in einer solchen Umgebung unwohl fühlen? Zugegeben, ich habe befürchtet, von einem Chefkoch oder Auftragsschläger verhört zu werden, aber etwas an Thomas – sein Flair, seine Umgangsformen – legt nahe, dass er mit der Cateringindustrie überhaupt nichts zu tun hat. Man hat nicht den Eindruck, dass er persönlich mit Verhören jedweder Art allzu viel anfangen kann. Möglicherweise ist er einfach ein früherer Gast oder ein Freund dieses mysteriösen Basken. Jedenfalls scheint er in diesem Vorgang ein Laie zu sein, genau wie ich; wahrscheinlich denkt er, dass ich mehr weiß, als ich tatsächlich tue. Und ich kann mich zurücklehnen, muss nur den Mund halten und schauen, was kommt.
Als Austern und Schwarzbrotstreifen auftauchen, fängt er an, in sich hineinzukichern: »Hast du das mit dem Fisch gehört, in Tokio?«
»Hm? Ich war dabei. Hab selbst davon probiert.«
»Gerade eben – diese Woche?« Lachend starrt er mich an. »Und du bist noch am Leben? Das wird ja immer besser mit dir. Tokio, Tempelhof, Marius – ich habe versucht, Mutmaßungen über deine Verbindung zu Berlin anzustellen, aber an dieser Stelle gebe ich auf, ehrlich.«
Ach, die Enthusiasmen. Oder könnte es sein, dass ich endlich mit dem Schwarm schwimme, zu dem ich von Geburt an gehöre? Hat mich der Kapitalismus endlich da abgeliefert, wo ich sein sollte? Ich hätte nie gedacht, dass die Welt der Lächelnden, Eloquenten und elegant Gekleideten mein Schwarm sein könnte. Aber ich gebe zu, dass etwas an einem gewohnheitsmäßigen Lächeln das Leben erleichtert, mein Problem mit dem Lächeln ist nur, dass der Markt es als praktische Fassade der Verarsche einsetzt. Wegen dem, was hinter einem Lächeln noch alles mitläuft, kann man ihm nicht mehr trauen. Und so finde ich mich merkwürdigerweise zwischen zwei Welten wieder. Was für unterschiedliche Welten es sind! Den mürrischen Gesichtern in Gerds
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