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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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Öffentlichkeit wurden die Namen der » neunzehn Nazis « im Januar 1987 bekanntgegeben. Im Fernsehen und Radio wurde eine Liste verlesen und tags darauf in den Zeitungen veröffentlicht. Auf spontan einberufenen Bürgerversammlungen wurden strenge Strafen gefordert. Studenten trafen sich zu Versammlungen, auf denen an die dekadenten Performances im Club Nolens Volens erinnert und ebenfalls strenge Strafen gefordert wurden. Veteranen der Partisanenbewegung kamen zu spontanen Versammlungen zusammen, äußerten die feste Überzeugung, dass in unseren Familien anständige Arbeit nichts mehr gelte, und forderten ebenfalls strenge Strafen. Die Nachbarn gingen mir aus dem Weg. Meine Kommilitonen boykottierten ein Englisch-Seminar, weil ich daran teilnahm, während die Professorin in der Ecke saß und leise weinte. Freunde durften uns auf Befehl ihrer Eltern nicht mehr besuchen. Das Ganze kam mir vor wie ein Roman, in dem einer der Protagonisten, ein nihilistisches Arschloch, meinen Namen trug. Sein Leben und mein Leben überschnitten sich, verschwammen gar. Irgendwann begann ich, meine Existenz anzuzweifeln. Was, wenn ich die Erfindung eines anderen war? Was, wenn ich der Einzige war, der nicht begriffen hatte, wie die Welt wirklich aussah? Was, wenn ich mir etwas vorgemacht hatte? Was, wenn ich einfach dumm war?
    Isidora floh mit ihrer Familie nach Belgrad, nachdem ihre Wohnung von der Staatssicherheit durchsucht und Dokumente beschlagnahmt worden waren. Einige von uns taten sich zusammen. Goga musste wegen einer Blinddarmoperation ins Krankenhaus, wo die Schwestern sich über sie lustig machten. Guša, Veba und ich wurden enge Freunde. Wir nahmen an all den spontanen Versammlungen teil in der irrigen Hoffnung, erklären zu können, dass das Ganze ein schlechter Scherz gewesen war oder dass es letztlich niemanden etwas anging, was wir auf einer privaten Feier gemacht hatten. Diverse Patrioten und überzeugte Sozialisten spielten das altbekannte Guter-Cop-Böser-Cop-Spiel. Bei einer Parteiversammlung an der Universität gab ein gewisser Tihomir (wörtlich: stiller Friede) den miesen Bullen. » Du hast meinen Großvater durch den Dreck gezogen! « , brüllte er und stöhnte ungläubig, als ich erklärte, dass das Ganze absolut lächerlich sei, während die Parteisekretärin, eine sympathische junge Frau, beruhigend auf ihn einredete.
    Doch fortan hatte uns die Partei auf dem Kieker. Jedenfalls berichtete mir das ein Mann, der bei uns zu Hause erschien, ein Abgesandter der Bezirksverwaltung der Partei, der unsere Familie überprüfen sollte. » Seht euch vor « , sagte er gönnerhaft, » ihr steht unter Beobachtung. « Ich musste sofort an Kafka denken. (Jahre später kam ebenjener Mann, um bei meinem Vater Honig zu kaufen. Er wollte nicht über die damaligen Ereignisse rings um die Geburtstagsfeier sprechen, sagte nur: » Die Zeiten waren halt so. « Er erzählte, dass seine zehnjährige Tochter Schriftstellerin werden wolle, und zeigte mir eines ihrer Gedichte, das er stolz in seiner Brieftasche verwahrte. Es wirkte auf mich wie die Rohfassung eines Abschiedsbriefs, die erste Zeile ging so: » Ich will nicht mehr leben, niemand liebt mich. « Der Mann sagte, seine Tochter sei so schüchtern, dass sie ihm ihre Gedichte nicht zeige – gelegentlich lasse sie eines wie absichtslos fallen, damit er es finden könne. Am Ende fuhr er mit Unmengen von Hemon’schem Honig davon. Ich hoffe, seine Tochter lebt noch.)
    Schließlich legte sich die Aufregung. Viele Leute erkannten, dass die ganze Sache nicht die Bedeutung hatte, die ihr von offizieller Seite gegeben wurde. Die bosnischen Kommunisten wollten ein Exempel an uns statuieren, wollten demonstrieren, dass jeder Ansatz von Jugendlichen, die Werte der sozialistischen Gesellschaft in Frage zu stellen, im Keim erstickt würde. Und bald hatte das Regime viel ernstere Skandale am Hals. Die hartnäckigen Gerüchte über den Zusammenbruch des Staatsunternehmens Agrokomerc, dessen Chef dank guter Beziehungen zum ZK mit ungedeckten Wechseln sein Mini-Imperium errichtet hatte, waren nicht mehr zu vertuschen. Und einige Leute wurden verhaftet und öffentlich angeprangert, weil sie sich kritisch über das undemokratische Regime und den Personenkult um Tito geäußert hatten. Im Gegensatz zu uns wussten diese Leute, wovon sie redeten. Sie hatten sich Gedanken gemacht, sie vertraten klare intellektuelle und politische Positionen, ihre Überlegungen waren meilenweit entfernt von unseren

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